Rudolf Stratz - Du bist die Ruh!

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Moskau kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert. Der Deutschrusse Iwan Michels hat ein Problem: Endlich kann er seine neue Baumwollspinnfabrik einweihen, da sind aufgrund einer Wirtschaftskrise und Spekulationen an der New Yorker Börse die Baumwollpreise so gestiegen, dass Baumwolle fast teurer ist als fertiges Garn. In seiner Not sieht er sich gezwungen, sich um Hilfe an Alexander Wieprecht zu wenden, einen weiteren Deutschrussen und Flanellfabrikanten, mit dem er sich vor vier Jahren bitter zerstritten hat, da der sich in abfälligen und herabsetzenden Worten über den kommenden Misserfolg von Michels' Fabrikprojekt und über dessen mangelnde Managementfähigkeiten geäußert hat – jetzt muss Michels einräumen, dass Wieprecht in vielen Punkten recht gehabt hat. Doch nachdem Michels mit Wieprecht Kontakt aufgenommen hat, sucht Wieprecht wiederum Kontakt zu Michels' Frau Marja. Nach anfänglicher Abneigung ist Marja von dem Nonkonformisten und Lebensphilosophen Wieprecht fasziniert und in vielen langen Gesprächen stellen die beiden bald fest, in wie vielen Punkten sie sich ähnlich sind. Als sich die Verhältnisse um Michels' Fabrik immer trostloser gestalten und Marja sich zunehmend in Wieprecht verliebt, eskaliert die Situation und steuert unerbittlich auf die unausweichliche Krise zu. Marja muss sich entscheiden: Ist ihr das Glück oder die Ruhe im Leben wichtiger?-

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Rudolf Stratz

Du bist die Ruh!

Roman

Saga

Du bist die Ruh!

© 1905 Rudolf Stratz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711507063

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

I

Draussen, vor den zum Schutze gegen die Kälte sorgfältig mit Papierstreifen verklebten und mit dicken Watteschichten ausgepolsterten Doppelscheiben war das tiefe Winterschweigen Moskaus. Und wenn Marja Michels in ihrer hochgelegenen Wohnung auf der Insel zwischen dem Moskwaflusse und dem Kanal an eines der Fenster trat, um nachzusehen, ob ihr Mann noch nicht bald aus seinem Kontor oder vom Neubau seiner Baumwollspinnerei zurückkäme, dann erblickte sie vor sich dasselbe stille nordische Bild — alles weiss in weiss, in trüben, frostigen Tönen — fahlgrauer niedriger Himmel mit leisem, kaum merklichem Geriesel träger Flocken, schwere, zähe, eisgraue Luft, die auf kurze Entfernung hin schon in undurchsichtigen Nebel überging, grauweisser Schnee am Boden, auf den Dächern, auf den Strassen und Brücken, auf dem Eis des Flusses — Schnee überall. ...

Und doch schimmerte es da drüben grellbunt, unwahrscheinlich wie eine Sinnestäuschung des Südens in dieser bleichen nordischen Welt. Auf dem hohen Hügel zur anderen Seite des Flusses stand es und bedeckte ihn weithin mit seinem phantastischen Gewirr von Palästen und Kathedralen, von Türmen und Zinnen, von Zugbrücken und Klöstern und Toren. Dort ragte der Kreml, die heilige Stadt des heiligen Moskau, hoch über das weisse Häusermeer. Die Michelssche Wohnung lag ihm gerade gegenüber, ganz vereinzelt zwischen den Magazinen und Warenlagern der „Insel“ und abgeschieden von den eigentlichen Vierteln der Deutschen und Deutschrussen im Osten um die evangelischen Kirchen herum.

Und doch liebte Marja ihre Wohnung — gerade wegen des Ausblicks auf den Kreml. Der tat den Augen so wohl in dem langen Moskauer Winter, der ihr, der geborenen Reichsdeutschen, noch endloser und eintöniger erschien als ihrem Mann und ihren anderen schon halb verrussten Landsleuten hier. Das war ein wie durch Zauber hierher verpflanztes Stück Orient oder Indien, wie ein Traum aus tausend und einer Nacht ... ein Bagdad im Schnee ... Still, mit einem halben Lächeln auf den klaren, jugendlich schönen Zügen stand sie da und lugte durch das Loch, das sie in die Eisblumen der Scheiben gehaucht. Draussen hatte der bisher bleigraue Himmel an einer Stelle eine zarte, milchig-bläuliche Färbung angenommen. Ein schwacher Mittagsonnenstrahl blinkte da hindurch und wo er unten, im Schnee und Nebel den Kreml erreichte, da leuchtete es überall geisterhaft dagegen auf. All die lautere Golddachung des Kirchen- und Heiligenreichs auf dem Berghügel flammte und funkelte, noch halb von Nebelschleiern umsponnen, in blitzenden Lichtern zwischen dem Weiss des Bodens, dem Grau der Wolken, und unter ihr schimmerten gleich einem ausgeschütteten Farbenfüllhorn von Tönen die Riesenmassen der weltlichen Gebäude, der Kathedralen und der Klöster — da zartrosa Wände mit weissen Säulen, grüne Spitzgiebel, ein Haufen tief sattblauer Tulpen um eine mächtige, goldstrahlende Zwiebel, himmelblaue Fensterfronten mit schneeigem Arabeskenwerk und hellgrünen Dachreitern, weisse, mit bunten Heiligenbildern bemalte Steinrondelle unter goldenen Mützen, eine gigantische, ochsenblutfarbene Wölbung wie die Riesenkuppel einer Stambuler Moschee, ein seegrüner, vornübergeneigter Moskowiterpalast, ein nadelscharf aufschiessendes kalkweisses Minareh, hinter ihm ganze Schwärme weisser Türme mit taubengrauer Kuppelung und dem goldenen Erlöserzeichen auf der Spitze — alles überragend der goldgekrönte Riese, der Turm Iwan Weliki, und neben ihm der zitronengelbe Flimmer des ebenso riesigen Winterpalais und neue blaue Schnörkel und grüne Firste und goldene Hauben hinter dem Altersgrau der bemoosten viertelstundenlangen Mauern und Gräben und Brückenköpfe aus der Mongolenzeit.

Und immer heller schien die Sonne und immer neue Mengen kreuztragender Kuppeln, ganze Nester zwiebelförmiger Goldmassen wuchsen funkelnd und blitzend hinter dem Weiss der Kathedralen auf, die, wieder auf weissen Schneeflächen stehend, mit ihren weissen Türmen das Durcheinander der Töne dämpften, es beinahe in einen feierlichen Gleichklang von Weiss und Gold verwandelten, wie drüben, aus nebelumsponnener Weite, in bleichem Glanz, anscheinend halb durchsichtig gleich einer Luftspiegelung von phantastischer Grösse das zweite Wahrzeichen Moskaus, die weissgoldene Erlöserkathedrale, herüberdämmerte.

Und still war es — totenstill. Kein Laut drang aus den bunten Zauberhäusern herüber, über den Fluss, in die Stadt hinein. All diese Farben schwiegen. Die grossen Glocken hingen schlafend in ihren offenen Holzstühlen. Nichts regte sich. Nur an einer Stelle stürzten weisse Brocken lautlos in die Tiefe. Da fegten Mönche den Schnee von einer Goldkuppel ihres Klosters. Dann hörte auch das auf. Die Ruhe war wieder da und Marja Michels wandte sich langsam vom Fenster ab und sagte mit einem freundlichen, aber noch ein wenig leeren und verträumten Lächeln auf den Lippen zu dem eingetretenen Fräulein: „Sind Sie endlich zurück mit den Kindern? Wo bleibt ihr denn nur so lange?“

Sie bemühte sich, die ruhige Heiterkeit ihrer Züge ein wenig in Strenge zu verwandeln. Aber sie konnte es nicht recht, während sich ihr kleiner Sohn und seine Schwester erhitzt, mit roten Backen, hereindrängten und Grischa, der ältere, gleich zu berichten begann — erst russisch, dann auf ihren Verweis: „Grischa — wie spricht man mit der Maminka?“ in einem drollig von den Kinderlippen klingenden harten Deutsch, in dem ihn, wo ihm die Worte noch fehlten, das Fräulein unterstützte. Er war in grosser Aufregung. Sie hatten am Ende ihres Spazierganges, auf dem Platz, wo sie gewöhnlich einen Schlitten nahmen, um zurückzufahren, den Timofei, ihren Leibkutscher, nicht getroffen, und die anderen Iswoschtschiks hatten alle gelacht, und einer, mit einem ganz grossen roten Bart, hatte gesagt, der Timofei sei betrunken und zur Polizei gebracht worden. Dort müsse er drei Tage bleiben. Da habe das Fräulein den Rotbärtigen gefragt: „Nun — und du? Bist du nüchtern? Kann man mit dir fahren?“ und er habe gesagt: „Belieben Sie! Ich bin ja Timofeis Freund!“ und sie seien ganz, ganz schnell gefahren — viel schneller als mit dem Timofei — und der Fuhrmann habe gesagt, falls sie künftig ihn statt des Timofei nähmen, dann würde er zu Ostern, wenn er in sein Heimatdorf ginge, ihnen von dort ein Eichhörnchen mitbringen — ein rotes oder ein graues — und nun müsse man immer mit dem neuen Fuhrmann fahren — des Eichhörnchens wegen ...

„Das Eichhörnchen wird dich beissen!“ sprach Marja und schob die ganze Gesellschaft ins Nebenzimmer. Aber Grischa widersprach: „Nein — nein — Mama! Er sagt: ja, die Iltisse ... die beissen ... aber die Eichhörnchen nicht so sehr! Die Tanja natürlich ... die hat jetzt schon Angst ...“

Die junge Frau beugte ihre schlanke Gestalt zu ihrem Töchterchen nieder und strich ihr sanft über das Haar. „Sei nur ruhig ... es tut dir niemand was! Und nun macht und zieht euch schnell um zu Tisch. Der Papa wird gleich kommen!“

Allein geblieben trat sie wieder zum Fenster und schaute hinaus. Die Strasse unter ihr war still, von grauem Schnee bedeckt, selten einmal von einem Wanderer im Pelz, einem lautlos gleitenden Schlitten belebt. Und still lag der Fluss davor, zugefroren und beschneit, von schmalen dunklen Wegspuren überkreuzt. Grosse blaue Barken staken unbeweglich, ausgestorben in seiner Eisdecke. In der waren an einzelnen Stellen Löcher geschlagen. Da knieten Weiber und wuschen in dem schwarzen, rauchenden Wasser und weiter hinaus standen vermummte Männer und angelten. Das alles war eintönig und alltäglich. Aber da drüben, hinter den steil abschiessenden weissen Hängen, den verwitterten und verwetterten Mauern standen wieder die bunten Geisterschlösser und grüsste ein die Augen beinahe schmerzendes Gewirr und Gewimmel von Gold. Und blickte man zu beiden Seiten des Kreml weiter über die nebelumsponnenen Dächer der Stadt, so flimmerte es auch da überall von schwebendem Gold und durchbrach, im Widerschein der Sonne aufblitzend, den feinen Dunst und Rauch der Winterkälte mit zuckenden Lichtern und baute sich hunderttürmig in schattenhaft in der Ferne sich wölbenden Kuppeln, in grünen Glockenstühlen und steinern ragenden Warten aus unzähligen Kathedralen und Kirchen und Klöstern über der heiligen Stadt auf.

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