Iwan Michels hatte, wenn er sich auch als Russen betrachtete, doch die Mütze nicht vom Kopf genommen. Er ging alle vierzehn Tage in die evangelische Kirche, wie es sein Vater und Grossvater schon in Moskau getan; darin blieb er fest. Aber er schaute doch aufmerksam nach dem kleinen blauen Gnadenort mit dem kindlichen Sternendach hinüber und sagte dann lebhafter als bisher zu Marja: „Davon hängt’s nun ab, Duscha Maja, an welchem Tage ich werde die Fabrik eröffnen können!“
„Von der Iberischen Mutter Gottes?“
Er nickte. „Von der Iberskaja!“
„Also willst du sie wirklich zur Einweihung bestellen?“
Ihr Mann zündete sich mit geübter Hand trotz der raschen Fahrt eine Papyros an und warf das Streichholz seitlings in den Schnee. „Ich will nicht, Seelchen ... ich muss! Vergiss nicht, dass alle meine Arbeiter rechtgläubige Russen sind — zum Teil aus ganz weltentlegenen Dörfern hergeholt. Die würden es einfach nicht begreifen, dass irgend ein Unternehmen ohne den Beistand der Iberischen Mutter Gottes eingeweiht werden kann. Ich muss dieser Tage gleich Schritte tun und anfragen, zu wann ich die Iberskaja bekomme ...“
„Aber das wird eine Menge Geld kosten!“
„Kanietschno!“ sagte ihr Gatte. „Natürlich! Das geht jetzt schon in einem hin. Was liegt daran, wenn ein ganzes Vermögen auf dem Spiele steht? Mein Schicksal liegt nicht hier, sondern in New York — an der Börse, wo dieser Ascott in seinem Irrsinn die Baumwollpreise weiter und weiter in die Höhe treibt!“
Damit war er wieder beim Geschäft und sprach davon wie ein Mann, den stets dieselbe, nie weichende Sorge drückt. Sie hörte ihm zu. Aber es war nichts neues — immer das alte Lied. Die Worte verklangen ihr im Ohr. Still sass sie da und hielt mit einer Hand den Bibermuff vor den Mund, um sich vor der Kälte zu schützen, und griff zuweilen mechanisch mit der andern nach der Deichsel eines zu nahe herankommenden fremden Schlittens und schob sie zur Seite, wie es alle hier Fahrenden taten. Denn jetzt, wo sie die Twersche Strasse erreicht hatten, war um sie herum alles voll Leben und Getümmel. Schwärme von winzigen, niederen Schlitten schossen schnell wie die Schwalben den steilen Hang der Fahrbahn über den Schnee dahin, der hier hellbraun und ganz locker und trocken war, kreuzten einander, wichen sich aus, überholten sich, alles ohne Streit, ohne Schellenklang und Peitschenknall, nur mit unaufhörlichen halblauten Zurufen: nach rechts! — nach links! — Und ebenso friedlich schoben sich auf den viel zu schmalen Bürgersteigen die Menschen aneinander vorbei, in rastlos neuen, farblosen, einförmigen Wellen, fast ohne Unterschied der Stände und der Kleidung. Es waren immer wieder dieselben, gebückt und langsam unter der Last des Pelzes in schweren Galoschen schreitenden Gestalten, dieselben Männer in Kaftan und hohen Stiefeln, dieselben bärtigen Bauern in umgedrehten Schaffellen und Bastschuhen, dazwischen ein Pope, die Frau am Arm, langhaarig und bebrillt, Generale und Offiziere, auch sie bis zur Unkenntlichkeit in Fellwerk vergraben, tatarische Althändler, den Sack über dem Rücken, Perser, an ihren hohen schwarzen Kegelmützen kenntlich, selten einmal das zottige Weiss einer mächtigen, tscherkessischen Kopfbedeckung und ein blutrotes Faltenspiel unter flatterndem Mantel — und wieder Braun und Grau und Schwarz. Dumpf und gleichmässig spülten die Menschenwogen dahin und riefen doch wieder durch die fast völlige Abwesenheit aller europäischen Modekleidung das Bild des Orients, wenn auch eines lichtlosen, wintertrüben, wach, mit immer denselben bärtigen Gesichtern unter den schwarzen Lammfellmützen.
Und ebenso seltsam, dem Westen fremd, war der Unterschied der Häuser — der stete Wechsel niederer Hütten und vielstöckiger Zinsgebäude, elender Kramläden und glänzender Magazine, stiller Klosterfronten und mächtiger Kron- und Adelspaläste, und auch in diesem Nebeneinander und Durcheinander der verschiedensten Menschenwohnungen zeigte sich wieder das fatalistische Gleichheitsgefühl des nahen Asiens, als dessen äusserster Vorposten auf seiner kleinen, Europa genannten Halbzunge hier das heilige Moskau die meilenweit sich senkenden und hebenden Bodenwellen der russischen Steppe bedeckte. Aber allmählich überwogen doch die dürftigen Bretterhäuschen, die winzigen Warenverschläge auf den immer schmutziger und breiter und öder werdenden Strassen — das eigentliche Moskau nahm hier ein Ende, dies Riesennest, das überall kleinstädtisch war und gleich darauf wieder barbarisch gross, alle Masse Europas überflügelnd und sich doch nie zu einheitlicher Wirkung zusammenfindend, sondern alles da stundenweit verzettelt, dort wieder in die enge Schranke mittelalterlicher Mauern und Türme hineingezwängt, so dass zum Schluss aus all dieser Mannigfaltigkeit, diesem bunten Widerspruch der Dinge, dieser Welt mit ihren Hunderten von Kirchen, ihren sich andächtig überall auf freier Strasse bekreuzigenden bärtigen Menschen, ihrem Glockenklang, ihrer ganzen, geheimnisvoll atmenden russischen Volksseele nur der Eindruck des Grenzenlosen übrig blieb.
Weiss und rot schimmernd, das Sechsgespann der Siegesgöttin auf dem Sims, stand da die Triumphpforte. Hinter ihr leuchtete der Schnee nicht mehr grau wie in der Stadt, sondern blendend weiss. Zwischen Landhäusern und Gärten begann da der Petersburger Heerweg. Kahle Baumkronen ragten in die schon langsam gegen Sonnenuntergang sich grau trübende Luft und zwischen ihnen sah man, der Stadt entronnen, in die Weite: in den weissgrauen Winterhimmel, an dessen Horizont sich violette Schneewolken ballten und ein kalter Silberglanz allmählich mit seinem Dunst von Frost und Nacht die unsichtbare, drüben sich dehnende Ebene Russlands mit ihren Wäldern und Steppen überzog.
„Stoi! Halt an!“ rief Iwan Michels dem Kutscher zu, wickelte sich aus den Decken und stieg schwerfällig aus dem Schlitten. Dabei erwiderte er den Gruss eines vorbeifahrenden baumlangen, in einen kostbaren Biberpelz gehüllten Herrn, dessen glattrasiertes Mephistogesicht mit dem funkelnden Einglas zahlreiche vernarbte Schmisse deutscher Hochschulen aufwies und der, die Zigarette schief zwischen den verwegen lächelnden Lippen, ihm herüberschrie: „Mahlzeit, Iwan Antonowitsch ... ich komm morgen mal bei Ihnen ran!“
„Geht’s nicht heute?“
„Nee ... zu viel zu schuften ... die Neuyorker sind ja rein verrückt ... Liverpool wieder zehn Punkte höher ... jetzt werden sogar hier gewisse Schlafmützen aufgerappelt ... na ... da, swidanje ...“
Er winkte mit der Hand und verschwand und Marja frug: „Wer war denn das nun wieder?“
„Das? Ein gewisser Etzel! Ein Garnmakler!“
„Und mit dem Menschen machst du Geschäfte?“
Ihr Mann lachte. „Na ja ... er ist so ein bisschen ... man weiss ja auch nichts rechtes von ihm ... Er muss lange in Amerika gewesen sein ... er kennt Neuyork genau! Was er vorher in Deutschland getrieben hat und warum er von da weg ist — darüber schweigt er sich aus.“
„Mir wäre der unheimlich!“
„Ja — Seelchen ... ich kann mir die Leute nicht so aussuchen. Dieser Charles T. Etzel ist ein fixer Kerl ... ein Gewaltmensch ... mit allen Hunden gehetzt ... man kommt mit ihm vorwärts ... wot ... das hab ich gern!“
„Mir ist’s lieber, du gehst jetzt zu Wieprecht!“
„Nun — Gott will es!“ sagte Iwan Michels ergeben. Ein Haufen Iswoschtschis war, den vornehmen Mann im Pelz erblickend, mit dem vielstimmigen Geschrei: „Poschaluite, barin! — Belieben Sie, Herr!“ auf ihn zugestürzt. Er suchte einen aus und rief seiner Frau noch einmal ein zärtliches und etwas zorniges: „Auf Wiedersehen, Duschinka!“ zu. Dann fuhr er nach links und sie geradeaus. Und Marja fühlte wieder, nunmehr allein, das angenehme leise Gleiten der Kufen auf dem harten Schnee, das lautlose Vorüberhuschen bereifter Bäume und Sträucher, vereister Vorgärten und halb unter der Wucht der Flocken begrabener Sommervillen, die schweren, kalten Windstösse der freien Ebene, die erlösende Empfindung, endlich einmal Moskau entronnen zu sein, das Auge in die Weite schweifen zu lassen.
Читать дальше