Dabei fühlte sie immer, während sie musizierte, deutlich seinen Blick auf ihr ruhen — unverwandt — und schaute ein paar Mal beim Umdrehen der Notenblätter flüchtig zu ihm hinüber und überzeugte sich jedesmal, dass es eine Täuschung war. Seine Augen suchten sie nicht. Sie waren zur Decke gerichtet. Er rührte sich nicht und hörte auf die Musik. Auch sein Gesicht war unbewegt. An was er dachte — was ihn beherrschte — ob die Baumwollpreise — die Börse morgen — oder einfach die Langeweile — oder dasselbe Träumen in Tönen, wie es leise betäubend um sie klang und schwang — sie wusste es nicht. Und doch glaubte sie zu fühlen, dass er jetzt auch ungefähr so fühlte wie sie — dass sie es jetzt in ihrer Macht hatte, durch die Weisen, die ihre Hände anschlugen, Gedanken, Stimmungen, Erinnerungen in ihm heraufzulocken, auf ihn einzuwirken, der sonst dem Einfluss anderer Menschen unzugänglich schien — und das gab ihr ein ganz übermütiges Bewusstsein von Stärke — von Sieg — aber seltsam — nicht eigentlich ihm gegenüber — sondern vor sich selbst ...
Ihr Mann hielt sich im Hintergrund. Er hatte die Kachetinerflasche neben sich und füllte sich öfter sein Glas. Der Ärmste — der langweilte sich nun sterblich, aber voll Rücksicht und Höflichkeit gegen die anderen und mit guter Miene. Sein Gesicht trug einen andächtig gespannten, verständnislosen Ausdruck, ganz im Gegensatz zu Alexander Wieprechts undurchdringlichen Zügen. Und doch war das der, der ihr in diesem Augenblick näher war. Er begriff wohl eher ihr Spiel. In seinem geistigen Ohr fluteten und ebbten die Töne vielleicht jetzt ebenso wie in ihr — im Rauschen eines uferlosen, weiten, weiten Meeres und Windeswehen über den Wellen — einem fernen, langsam verhallenden, nachzitternden Klang ... In der Ecke aber, wo Iwan Michels sass, blieb alles, wie es war — freundlich und gut — aber ganz ohne jenes seltsame Feiertagsleuchten, dort drüben am Horizont — alles so wie gestern — so wie morgen — und das stimmte sie auf einmal traurig. Wenn er sie nicht verstand, wollte sie lieber gar nicht weiterspielen, am wenigsten vor dem Unbekannten da, von dem sie nichts wusste und nichts wollte — der heute zum ersten und hoffentlich auch schon zum letzten Male ihre Wohnung betreten. Sie brach, beinahe unvermittelt, die Musik ab und erhob sich. Und im selben Augenblick war auch schon das geistige Band, das sich während des Spiels um sie und Alexander Wieprecht geschlungen hatte, zerrissen. Er war ihr fremd wie zuvor, Scheu einflössend, fast unheimlich. Sie ging zu ihrem Mann. Der klatschte in die Hände, geräuschvoll und nicht ohne einige Verlegenheit. Denn er war in der letzten Viertelstunde ein klein wenig, kaum merklich eingenickt. Alexander Wieprecht aber begnügte sich damit, ruhig zu sagen: „Ich danke Ihnen, gnädige Frau!“ und sah dann auf die Uhr. Es war nahe an Mitternacht. Sie erschrak förmlich. So lange hatte sie gespielt — beinahe anderthalb Stunden, ohne es zu merken — ihr war es kaum wie die Hälfte der Zeit erschienen — und ohne dass er irgendwie ein Zeichen von Ungeduld gegeben hatte. Das schmeichelte ihr eigentlich. Aber zugleich war sie doch froh in der Erwartung, dass er sich nun wohl bald entfernen würde, und in der Tat bat er nach kurzem Höflichkeitsgespräch, als erriete er ihre Gedanken, den Hausherrn, ihm durch den Türschweizer einen Schlitten holen zu lassen und verabschiedete sich sofort, als der zur Stelle gemeldet war. Dabei küsste er ihr die Hand. Das war ja Brauch. Sie konnte es nicht hindern. Aber es war ihr unangenehm, dass er ihre Rechte hielt. Sie zog sie rasch wieder zurück und erwiderte nur ein paar knappe, halblaute Worte, als er ihr das übliche „Auf Wiedersehen“ sagte.
Iwan Michels hatte seinen Gast bis auf den Treppenflur begleitet. Nun kehrte er zurück, rieb sich wohlgelaunt nach seiner Art die Hände und zog dann an der Schnur, um durch die Ventilationsklappe hoch oben an der Wand, die einzige Luftöffnung einer sonst hermetisch verschlossenen, winterlichen Moskauer Wohnung, ein wenig von dem Nachtfroste draussen hereinzulassen. Denn der Wein hatte ihm warm gemacht. Er trocknete sich die Stirne. „Na — Karaschô!“ sagte er vergnügt. „Nun ist also mit dem Wieprecht alles glücklich wieder beim alten! Du bist doch immer die Klügste, Duschinka! Wie gefällt er dir denn?“
„Da fragst du sonderbar.“ Marja war selbst erstaunt, wie nervös und gereizt sie war. „Ein Mensch wie er ... du kennst ihn doch selbst genau genug ... er gehört doch eigentlich nicht hier herein ... zu uns ...“
„Ja — wie denn? Du hast mich doch gedrängt und getrieben, zu ihm zu gehen!“
„Ja — zu ihm, in Geschäften — oder er zu dir aufs Kontor. Aber hier ...“
„Ja, aber — Duscha maja — soll ich ihm denn antworten: Nein! — wenn er sich selbst für den Abend einladet — in bester Absicht — und ein Mann wie er ... der Direktor der Spiridionowschen Manufakturen ..? das wäre doch ein neuer Bruch gewesen — das gerade Gegenteil von dem, was du erreichen wolltest und auch erreicht hast ... beliebe das doch zu begreifen ...“
Sie begriff es sehr gut. Und doch sagte sie — ganz gegen ihren Willen — aber sie musste: „Es hätte sich schon ein Vorwand gefunden ... du hättest mich vorher fragen können ... ein bisschen Rücksicht solltest du doch auch auf mich nehmen ...“
„Winowát ... ich bin der Schuldige ...“ sprach Iwan Michels gottergeben. Aber der Kummer über die unverdiente Kränkung malte sich, zumal unter der Nachwirkung des feurigen Kachetiners, doch auf seinem bärtigen, geröteten Gesicht. „Nun soll ich’s wieder gewesen sein! Ich müh’ und sorg’ mich, wie ich kann — ich tu’, was du willst — und dann bekomme ich Vorwürfe ... das ist nicht recht, Marja — glaube mir ...“
Sie wusste, wie leicht verletzt er war, und dass er jetzt sogar Grund dazu hatte. Sie war ungerecht gegen ihn. Sie hätte ihm das so gerne gesagt und gelacht wie sonst und alles war gut. Aber sie brachte es nicht fertig — jetzt nicht. Ihre Lippen gehorchten ihr nicht. Sie blieben stumm. Und doch wartete er nur auf ein freundliches Wort von ihr, geduldig wie immer. Als das ausblieb, wandte er sich ab und seufzte und sie konnte ihm nicht helfen. Zum erstenmal seit langer, langer Zeit — sie vermochten beide sich kaum mehr an so etwas zu erinnern — war ein leiser Misston in ihre Ehe gekommen. Das fühlten sie beide und waren traurig. Dann ging er endlich aus dem Zimmer, zu den Kindern hinüber. Nach denen sah er immer vor dem Schlafengehen. Heute blieb er wohl besonders lange vor den Bettchen sitzen und tröstete sich im Anblick der Kleinen — und sie stand da einsam am Fenster und schaute hinaus in die Nacht ...
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