„Wie wär’ es denn, Ilse, wenn du jetzt wieder an deine Rechenaufgaben gingst?“
Der künftige Leutnant sagte das in dem freundlichen Ton eines Erwachsenen gegenüber einem Kind. Die dunkelhaarige, schwarzäugige Kleine stand eine Sekunde da, überlegte eine patzige Antwort, sagte dann, nur verächtlich die Achseln zuckend: „Pah!“ und lief, von einem neuen Gedanken erfasst, aus dem Zimmer und in langen Sprüngen, dass ihr die Zöpfe flatterten und die weissen Röckchen um die dünnen Beine flogen, über den Rasen hinüber zu Eva-Marie, die sie vom Fenster aus beim Verfüttern von gehackten Brennesseln und Eigelb an die jungen Puten gesehen. Ganz erhitzt und zerzaust kam sie später zu Tisch und hob da bittend ihren Suppenlöffel: „Lüdecke ... Erzähl doch wieder was Komisches!“
„Bin ich der urkomische Bendix?“ frug der Kavallerist entrüstet. Aber er fing sofort an, seinen Regimentskommandeur bei der Kirchenparade nachzumachen — wie die alte knackstiebelige Durchlaucht da widerwillig zu Fuss vorbeiwankte, geistesabwesende Fischaugen unter dem Monokel, unergründliche Verachtung um den halb offenen Mund — Ilse von der Zültz schrie vor Entzücken und trommelte mit ihren roten, mageren Kinderfäusten auf den Tisch, am Büfett hinten kicherte der alte, zahnlose Philipp still in sich hinein, auch die andern lachten. Exzellenz von Bornim aber sagte, als der Diener draussen war, verdriesslich: „Du bist und bleibst ein Kasinofatzke — weiter nichts!“
Lüdecke schwieg mit süffisantem Lächeln. Das machte den alten Herrn noch zorniger: „Wann schneidest du dir denn endlich die verdammten Bartkoteletten ab? Du siehst aus wie ein Hotelier!“
„Nur im schlichten Gewand des Bürgers!“ widersprach Lüdecke und lächelte, die Hände gleich einem Gastwirt ineinanderreibend, die kleine Ilse über den Tisch hinüber verbindlich an, dass sie von neuem losplatzte. Die anderen mit. Auch Achim. Und doch, sonderbar: Eine gewisse Nachdenklichkeit wollte nicht von ihm weichen. Diese dumme Eva-Marie! ... Nach Tisch bummelte er mit blossem Kopf, die Hände in den Hosentaschen, eine Zigarette im Mund, allein hinüber in den Hof. Vor der mächtigen Düngerstätte, auf der heute, im Sonntagsfrieden, nur die Hühner scharrten und die Spatzen die Haferkörner aus den Rossäpfeln pickten, stand breitbeinig, im guten Rock, die feiertägliche Festrübe rauchend, froh, sich einmal nicht mit den Vögten ärgern zu müssen, der Inspektor Dönges. Der Fähnrich ging auf ihn zu und gab ihm die Hand. Sie sprachen vom Wetter, von der Ernte. Der lederbraune Landwirt meinte: „Ja — wenn der Roggen man gut körnt ... Wir könnten ’ne anständige Ernte brauchen!“
„Na ... ihr habt doch in Kunstdünger gewütet, sagt meine Schwester!“
„Dat haben wir! Aber wer kommt heute nachmittag? Der Herr Aust!“
„Der Getreidefritze?“
„Ja. Sehen Sie, Herr Achim ... dat is ja die Zwickmühle: Dünger brauchen wir für die Ernte. Aber um den Dünger zu zahlen, müssen wir Vorschuss auf die Ernte nehmen. So geht dat nun Jahr um Jahr ... Schliesslich schuftet man nischt mehr ’raus als die Hypothekenzinsen.“
Auf Achim von Bornims sorglosem Fähnrichsgesicht lag wieder ein Schatten: „Sagen Sie mal, Dönges: woher kommt denn das nun?“
„Ja Gott, Herr Achim ... die Zeiten werden anders! Es geht nicht mehr so wie früher! ... Wie ich ein junger Scholar war, da war’s noch einfach: Dreifelderwirtschaft und Brache und Punktum. Streusand drauf! ... Heutzutage, wo sie aus Russland und Argentinien und Amerika einem mit dem Getreide über den Hals kommen ...“
„Und dann, Herr Achim“ — der Inspektor warf seine Zigarre weg und zertrat vorsichtig den glimmenden Stummel — „wo wollten früher die Leute im Dorf hin? Die waren froh, wenn sie’s Leben hatten. Da hat zu meiner Elevenzeit noch der Grossvater mit dem Enkel zusammen bei der Herrschaft Kartoffeln gebuddelt. Aber jetzt: Wozu hat der Mensch die Eisenbahn? Immer man ’rin nach Berlin! Berlin ist gross! Da bleiben sie! Und wir können uns hier mit den Sachsengängern herumhauen. Ein Geld kosten die Brüder! Um das ’rauszuschlagen, muss man höllisch auf dem Posten sein ... Ich bin man bloss ein Angestellter! Exzellenz haben nie die Zeit. Und die jungen Herren haben ja alle einen anderen Beruf. Leben wo anders ...“
Immer derselbe Kehrreim! Wie bei der Eva-Marie. Das Gut war ein geduldiger Packesel, dem man immer mehr und mehr aufhalste, ohne sich sonst um ihn zu kümmern. Der Himmel blieb den ganzen Nachmittag wolkenlos blau. Trotzdem wurde der Fähnrich von Bornim das Gefühl nicht los, als hinge ein Schatten über Sommerwerk. Schliesslich: Was ging es ihn an? Er war der Jüngste. Er wollte einmal nichts von diesem Boden. Weder Rechte, noch Lasten. Blieb sein Leben lang Offizier, auf den Zuschuss des ältesten Bruders angewiesen, der sehen mochte, wie er hier zustande kam. Ihn, Achim, den Letzten, bissen ja doch die Hunde ... Jetzt auch wieder: Am Abend traten, während der Vater mit dem vorgefahrenen Landrat endlos und ernst über die Reichstagswahlen im Herbst konferierte, die beiden älteren Brüder in Jagdausrüstung vor das Haus. Zwei gute Böcke waren für sie ausgemacht. Für den Fähnrich von Bornim war wieder einmal keiner da. Oder vielmehr, der Förster Jahn, der verfluchte Knasterkasten, geizte mit seiner Wildkammer. Drei Böcke an einem Abend — das ging ihm über den Spass! ... Lügen konnte das scheinheilige Gestell bei solchen Gelegenheiten ... Hol ihn der Teufel! ... Ging man eben ohne ihn ... wenigstens auf Enten ... Es war ja noch nicht Juni. Aber hier sah es ja keiner ...
Achim von Bornim langte sich in der Jagdstube des Schlosses, wo das Waidgerät von Generationen wie Kraut und Rüben durcheinander lag und hing, ein Paar Wasserstiefel hervor, fuhr in ein Paar gebräunte Lederbuxen, die vielleicht schon vor hundert Jahren irgendeinem Bornim gedient hatten, und in eine Joppe mit Hirschhornknöpfen und schaute, den Schlapphut in das junge Gesicht gedrückt, die lange Entenflinte in der Hand, ungefähr so aus, als diente er in einer Räuberbande und nicht in der Berliner Garde auf Beförderung. Er bummelte durch den Park. Heute waren seine Augen geschärft für den Verfall dieses uralten Herrensitzes in der Mark. Wie sahen doch die verwilderten Wege aus? Die Sandsteinfiguren rings um den verschilften Weiher standen schief. Zweien hatten die Berliner Ausflügler die Nasen abgeschlagen und Stullenpapier dafür hinterlassen. Wo waren die Fasanen geblieben, die sonst in ihrem sonderbar wippenden Lauf über den Pfad huschten? In dem grossen Karpfenteich am Ende des Parks war mehr Schlamm als Wasser. Der hingeworfene tote Reiher und das Schweinegeschlinge und anderes Luder faulte auf dem Trockenen. Die Mooskarpfen, die mit schmatzenden Mäulern drüben in der flachen Bucht standen, konnten doch nicht auf allen vieren über Land ... Himmel ja ... hier gehörte freilich überall ein Herrgottdonnerwetter hinein ... Er trat ins Freie ... Vor ihm dehnten sich im Abendschein die weiten Saatflächen. Heute am Sonntag feierlich still und leer. Aus dem Buschwerk in der Ferne kamen fremdartig-schwermütige, slawische Laute. Volkslieder der Sachsengänger. Das Klimpern einer Balalaika. Dann wieder Stille. Nur ein Wehen im Rot des Sonnenuntergangs über die Felder, ein Aufschauern und sich Beugen der Sträucher, so als atmete ein unsichtbarer, riesenhafter Mensch ...
Der Fähnrich pfiff sich eins und drang in die Sumpfwildnis am Rand des Bornimer Sees ein. Das war eine Welt für sich. Das war das Märchen seiner Kindheit gewesen. Indien war nichts gegen diese geheimnisvollen Dschungeln, diese plötzlichen und verlorenen kleinen Wasserspiegel zwischen mannshohem Schilf, auf denen wie weisse Sterne über tückischem Schlinggewächs die Seerosen schwammen, diese klagenden, lachenden, scheltenden Laute im unergründlichen, undurchdringlichen Röhricht. Das gespenstige Brüllen der Rohrdommel, der sanfte Ruf des Regenpfeifers, das leise, geschwätzige Quacken der wilden Enten. Das stumme Rudern und blitzschnelle Untertauchen des Blesshuhns ... sogar talergrosse, langgeschwänzte Schildkröten gab’s ... die freilich selten ...
Читать дальше