Derweil verliert die deutsche Wehrmacht weitere Schlachten im Osten. Am 22. Juni 1944, dem „Barbarossatag“, startet die Rote Armee eine Großoffensive, die wenige Tage später in der Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte mündet. Am 16. April 1945 beginnt der Umfassungsangriff gegen Berlin und leitet den Untergang des Nazi-Reichs ein. Am 2. Mai kapituliert Berlin. Zwei Tage später erzwingt Stalin die bedingungslose Gesamtkapitulation. In zweifacher Ausfertigung: am 7. Mai vor den Westallierten im französischen Reims, und in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai vor dem sowjetischen Oberkommandierenden in Berlin-Karlshorst. Jaschin: „Als uns am 9. Mai 1945 die Meldung vom Sieg unserer Armee über den Hitlerfaschismus erreichte, eilte ich in die Stadt. Im Zentrum sangen wir, umarmten uns. Immer wieder schrien wir: ‚Sieg! Frieden!‘ Die Freude wollte kein Ende nehmen.“
Aber sein Land bezahlt einen enormen Preis für den Sieg über den Nationalsozialismus. Ab dem 22. Juni 1941 sind in der Sowjetunion ca. 27 Millionen Menschen ums Leben gekommen, in der Mehrheit Zivilisten. Und der Verlierer hinterlässt eine verbrannte Erde. „Ansiedlungen wurden dem Erdboden gleichgemacht, Fabriken gesprengt, Schachtanlagen geflutet, Eisenbahnverbindungen unterbrochen, demontiert, unbrauchbar gemacht. Nach einer sowjetischen Verlustbilanz fielen ihr [der Strategie der ‚verbrannten Erde‘, Anmerk. d.A.] 70.000 Dörfer, 1.700 städtische Ansiedlungen, 32.000 Betriebe und Industrieunternehmen, 98.000 Kolchosen, 1.900 Sowchosen, 2.900 Maschinen- und Traktorenstationen, 765.000 km Eisenbahnverbindungen zum Opfer. 25 Millionen waren obdachlos.“ (Helmut Altrichter)
Der Jaschin-Entdecker: Arkadi Tschernischow
Nach dem Krieg ziehen die Jaschins von Sokolniki nach Tuschino, um näher am Werk zu sein. 1947 wird Lew zum Wehrdienst einberufen. Stationiert ist er in Moskau, wo er als Mechaniker bei der Luftwaffe dient. Jaschin wird nun Torwart des Luftwaffen-Teams „Flügel der Sowjets“.
Hier wird er von Arkadi Iwanowitsch Tschernischow entdeckt. Tschernischow ist keine Legende des Fußballs, sondern des Eishockeys: Als Assistenz- und Cheftrainer der sowjetischen Eishockey-Nationalelf führt er diese während seiner zwei Amtszeiten 1954–57 und 1961–72 zu vier Olympiasiegen und elf Weltmeistertiteln. Tschernischow, weltweit einer der erfolgreichsten Eishockeytrainer, begann seine Sportkarriere als Fußballer und Bandyspieler. Bandy ist ein Vorläufer des heutigen Eishockeys und entstand im Mittelalter in den Fens des englischen Ostens. Größe des Feldes, Anzahl der Spieler und Spielzeit entsprechen aber mehr den Regeln des Fußballs als des Eishockeys oder Hockeys. Außerdem wird nicht mit einem Puck gespielt, sondern mit einem kleinen Ball. Während das Spiel in Ländern mit milden Wintern allmählich verschwand bzw. komplett dem in der Halle gespielten Eishockey wich, blieb es in Russland und Schweden unverändert populär. Tschernischow wurde 1937 mit Dynamo im Sommer sowjetischer Fußballmeister und im Winter Bandy-Champion. Im Fußball feierte er diesen Triumph noch einmal 1940, im Bandy 1938, 1940 und 1941.
1945 wechselte er zum FK Dynamo Minsk, spielte aber auch noch für Dynamo Moskaus Eishockeyteam. Als im 22. Dezember 1946 die erste sowjetische Eishockeymeisterschaft angepfiffen wurde, schrieb sich Tschernischow gleich in deren Annalen ein, als er das erste Tor in der Geschichte der Liga erzielte.
Lew Jaschin beim Militär, 1948.
Zunächst denkt Jaschin (Mitte) an eine Karriere als Eishockeyspieler.
Tschernischow amtiert von 1948 bis 1975 als Cheftrainer von Dynamos Eishockey-Team. Zugleich ist er für die Fußballjunioren des Klubs verantwortlich. Der Journalist Igor Iwanow: „In den damaligen Nachkriegsjahren sah Tschernischow seine Aufgabe darin, körperlich gut entwickelte und begabte Burschen systematisch für Fußball und Eishockey zu interessieren. Er schaute bei zahlreichen Spielen von Schülerund später auch Soldatenmannschaften zu.“ Tschernischows Zöglinge sollten möglichst viele Sportarten beherrschen. Jaschin spielte außer Fußball und Eishockey auch noch Basketball und Handball.
Jaschin erzählt später über die enge Beziehung von Fußball und Eishockey in der UdSSR: „Tschernischow verlangte von jedem Fußballer, dass er auch Eishockey spielen konnte. Das hatte mehrere Gründe. 1951 hatten wir noch keine so schönen Hallen in Moskau wie jetzt, da man zu jeder Zeit Fußball spielen kann. Die Winter aber mussten auch damals genutzt werden, also spielten wir Fußballer Eishockey. Tschernischow vertrat den Standpunkt, dass dieses Spiel die Reaktionsschnelligkeit fördert, den Blick für Kombinationsmöglichkeiten schult und zur Härte erzieht.“
Über die Grenzen des Torraums hinaus
Tschernischow beobachtet Jaschin im Tor von „Flügel der Sowjets“, als es diese im Park am Chimki-Hafen mit einem anderen Armeeteam aufnehmen. Mit dabei ist Dynamo-Torwart Alexander Khomich. Auch Khomich ist von Jaschin angetan. Tschernischow lädt den 20-Jährigen zum Dynamo-Training ein. Später erzählt er darüber: „Der junge Jaschin war mir aufgefallen, weil er meiner Vorstellung von einem Torwart entsprach: groß, schlank, gute Körperbeherrschung. Mir imponierte sein Trainingseifer und die Art, wie er das Spiel auffasste – schöpferisch mitdenkend. Außerdem spielte er Eishockey – als Stürmer. Das war sehr wichtig. Denn im Angriff lernt ein junger Sportler die Taktik besser zu begreifen. Es kam der Zeitpunkt, da ich ihm vorschlug: ‚Ljowa, wenn du willst, nehme ich dich in die Juniorenauswahl.‘ Er machte zwar technisch noch viele Fehler, aber es freute mich, dass er meinen Ratschlägen aufmerksam zuhörte und sie befolgte.“ Tschernischow ermuntert Jaschin, das Torwartspiel aktiver zu interpretieren: „Ich sagte, ‚Ljowa, du spielst im Eishockey Stürmer und bist im taktischen Kombinieren gut. Versuch doch mal, nicht im Tor stehen zu bleiben, sondern über die engen Grenzen des Torraums hinauszutreten.‘ Er probierte es und hatte Erfolg.“
Der Slapstick-Keeper
1949 – nach Beendigung des Militärdienstes – wird Jaschin offiziell Dynamo-Fußballer. Hier muss er zunächst einmal eine harte Ausbildung durchlaufen. Vor allem bemüht man sich, dem „etwas steifen, langen Lulatsch“ (Iwanow) Beweglichkeit beizubringen. Jaschin misst 1,89 Meter und ist 82 Kilo schwer.
Die Ausbildung ist brutal. Iwanow: „Die Konsequenz und Zielstrebigkeit sowjetischer Trainer ist bekannt. Tag für Tag bis zu sechs Stunden Gymnastik, schwimmen, ins Wasser springen (als Mutprobe), auf der Aschenbahn laufen, springen, werfen, stoßen, im Turnsaal Gewichte stemmen, boxen, ringen, Basketball und Volleyball spielen, im Winter dann Schlittschuh laufen und skilaufen – so groß und umfangreich ist das Kapital, das sich ein Sportler für sein ganzes Leben erarbeiten muss, um später damit richtig zu wirtschaften!“ Für Jaschin kommt noch das Torwarttraining hinzu.
Im Herbst 1949 treffen im Halbfinale des Moskauer Pokals Dynamos Senioren und Dynamos Nachwuchs aufeinander. Mit Jaschin im Tor schlägt der Nachwuchs die Senioren, bei denen Khomich zwischen den Pfosten steht, sensationell mit 1:0. Wenige Monate später wird Jaschin in den Kader der ersten Mannschaft hochgezogen.
Seinen Start bei den Dynamo-Senioren als holperig zu bezeichnen, wäre nett formuliert. Zutreffender wäre es, von einer Katastrophe zu sprechen. 1950 hat Jaschin seinen ersten Einsatz in der B-Elf von Dynamo. Die Mannschaft befindet sich im Trainingslager in Gagry. In einem Testspiel gegen Traktor Stalingrad (heute Rotor Wolgograd) verursacht Jaschin ein Gegentor. Und was für eines. Der gegnerische Torwart schlägt den Ball ab, bis weit in die gegnerische Hälfte hinein. Der mitspielende Torwart Jaschin will vor den gegnerischen Angreifern am Ball sein, prallt aber bei seinem Ausflug mit seinem Mitspieler Jewgeni Awerianow zusammen. Beide gehen zu Boden, und der Ball trudelt ins Tor. Jaschin hatte sich nur auf den Ball konzentriert und dabei nicht registriert, dass Awerianow herangerauscht kam, um per Kopf zu klären.
Читать дальше