Otte Iversen holte tief Atem.
„Am selben Tage setzte ein Fischer uns wieder über. Dann vergingen noch vier Jahre, bevor wir einander die Treue versprachen. Es war im letzten Frühjahr. Aber nun sind wir ja beide schon lange erwachsen.“
Er schwieg. Sie waren zu einem offenen, mondbeleuchteten Platz gekommen neben der Mauer. Otte Iversen zeigte auf einen Stein. — „Wollen wir uns ein wenig setzen?“
Sie setzten sich. Otte Iversen hatte noch mehr auf dem Herzen, er sass in Gedanken versunken. Michel wusste nichts zu sagen, er sah, wie ratlos Herr Otte den Finger in einen Schlitz seiner Hose bohrte. Zwischen ihm und mir ist kein grosser Unterschied, dachte Michel, wir sind beide in derselben Verfassung; Gott steh uns bei.
„Aber ich soll sie nicht heiraten“, fuhr Otte nach einer Weile fort, tief niedergeschlagen, nachdenklich, eigensinnig. „Meine Mutter will es nicht, weil sie unter meinem Stand ist. Ich kann den Hof nicht bekommen, wenn ich sie heirate. Da hörte ich, dass der König zum Krieg rüstet. Und wenn ich auch ganz von unten anfangen muss, so ist das doch ein Ausweg.“
Otte Iversen hatte nun erzählt, was er erzählen konnte. Das übrige, die verzehrende Sehnsucht des Mannes nach dem Mädchen, dessen Namen er kaum auszusprechen vermochte, die Krankheit seines Blutes, erfasste Michel durch Sympathie.
„Wer weiss, ob das Glück mir hold sein wird“, sagte Otte Iversen in müdem Ton. Er beugte sich vornüber und hielt die gefalteten Hände zwischen den Knien.
„Der Hof ist alt und verfallen“, fuhr er mit belegter Stimme fort. „Nichts ist, wie es sein sollte.“ Er fuhr schaudernd zusammen und gähnte laut. „Wir wollen weitergehen!“
Sie brachen auf. Der Mond war am Himmel verblichen, die Sonne wollte aufgehen. Bevor die Dämmerung kam, legte sich ein dünner, rosenroter Nebel über die Stadt. Michel konnte Otte Iversen anmerken, dass er seine Vertraulichkeit bereute. Er verabschiedete sich bald und ging seines Wegs.
Michel hatte kein Obdach. Er legte sich in einem Winkel auf dem Friedhof nieder; es war schon hell genug dazu. Gerade als die Sonne über der Stadt aufging, schlummerte er ein.
Der Totengräber kam gegen Mittag auf den Kirchhof und sah den langen, regungslosen Körper im Unkraut liegen. Er glaubte, dass es ein Toter sei; als er aber herantrat, sah er, dass der Mann nur schlief, seine Augenlider zitterten unter den Sonnenstrahlen.
Michel träumte, dass er einen hohen, steilen Berg bestieg, er watete metertief im lockerem Schnee. Als er den Gipfel erreicht hatte, setzte er sich nieder, er konnte nicht mehr weiter. Über seinem Kopf sah er den Pfad, der abwärts führte; um aber dieses kleine Stück höher zu steigen, musste er einen grossen Umweg machen, ganz um den Berg herum. Er hatte es aufgegeben, sass mit beiden Beinen im Schnee vergraben; es war vorbei. Der Pfad über ihm lag in einer Wolke von Schneegestöber, der reif-feine Schnee des Berges schien bis auf den Grund aufgewühlt zu sein. Den Pfad herab schritt eine lange Reihe junger Mädchen in schwarzen Mänteln; während sie sich unter grausamer Heiterkeit durch die hochaufwirbelnden Schneewolken vorwärts kämpften, flogen ihre Mäntel hin und wieder zur Seite; ihre Körper waren ganz rot vor Kälte. Sie kamen in einer endlos langen Kette vom Berg herab, einige lächelten, andere lachten. Alle glichen Susanna, sie selbst aber war nicht darunter.
Als Michel am Nachmittag erwachte, erinnerte er sich deutlich seines Traumes und wurde davon beunruhigt. Ihm ahnte, dass er Susanna nie näherkommen würde, obgleich er fühlte, dass sie sein Schicksal sei. Mir wird es gewiss schlecht ergehen, dachte er, banger Ahnungen voll. Es hing Unglück über seinem Haupt, und doch hatte er sich selbst grössere Glückseligkeit prophezeit als den meisten Menschen. Und plötzlich überkam es ihn wie eine dunkle, traurige Vorahnung, dass er von eigener Hand sterben werde.
Nicht weit vom Galgenhügel, vor dem Westtor, lag die Schindergrube. Zur Sommerszeit stand sie meistens voller Dunst, so dass man die Äser auf dem Grunde nicht sehen konnte. An der Seite, die der Landstrasse am nächsten lag, hatte der Schinderknecht eine Stange mit dem Schädel eines Pferdes errichtet, um die Leute vorm Hineinfallen zu warnen. Michel ging dort häufig vorbei — er hielt sich am liebsten auf dem Kirchhof oder dem Richtplatz auf, weil er dort Frieden vor den Leuten fand. Nach und nach fühlte er ein seltsames Wohlwollen für den Pferdekopf dort oben auf der Stange; es war, als teilte er ein Geheimnis mit dem toten, ohnmächtigen Schädelknochen. Der Schädel war immer wie zu einem lautlosen Höllengewieher geöffnet, die Augenhöhlen glotzten, die entblössten Zahnreihen gemahnten an die ewige Hitze bei Satan — selbst der Nasenknochen sprach von knochiger Bosheit. Michel aber war im geheimen mit ihm befreundet.
Eines Abends traf Michel den Schinderknecht, der mit dem Schlachten einer verendeten Mähre beschäftigt war. Er redete ihn an, Jerck aber wollte Lange keine Notiz von ihm nehmen. Jerck war ein wortkarger Mann. Nicht weit von hier stand seine Hütte. An jenem Abend ass Michel Pferdefleisch an dem Tisch des Schinderknechtes. Seit jener Zeit schloss er sich ihm an und half ihm hin und wieder beim Geschäft. Der Schinder hatte eine gewisse verschlossene Verständigkeit in seinem Wesen; Michel betrachtete ihn als seinen Freund.
Eines Tages, als sie einem Pferd das Fell abzogen, blieb Michel lange in tiefen Gedanken sitzen mit dem Messer in der Hand.
Er erinnerte sich eines Tages in Jütland, als Anders Graas Pferd krank geworden war und nicht mehr leben konnte. Anders Graa entleibte es selbst, indem er ihm einen Armbrustbolzen zwischen die Augen schoss, und im selben Augenblick grub es die Zähne in den Schnee. Die Erde nahm zuerst den Kopf, dann kam der Körper hinterdrein, weil die Kniekehlen erschlafften. Ja... ja, die Erde weiss Bescheid, wenn sie auch mit ihrer Weisheit zurückhält. Wir alle bekommen eine Weile Urlaub, und je vergnügter wir sind, desto leichter fallen wir herein. Alle Wesen werden im Streit mit der Natur erschaffen, der Schwere zum Trotz; der Mensch hat sogar das Vorderteil von der Erde erhoben und die Schwere um ein Paar Beine betrogen. Gott mästet die Lebenden, damit ihr Fall um so schlimmer werde, denn Gott und Satan sind ein und dieselbe Person. Die Erde aber...
Michel sah ein hilfloses Neugeborenes vor sich auf der Erde liegen, er stellte es sich ganz deutlich vor: es liegt auf dem Rücken wie eine Leibesfrucht mit zusammengefalteten Gliedern. Aber es wächst vor seinen Augen — so schnell, dass er gar nicht allen Einzelheiten zu folgen vermag. Nun sehen ihn schon zwei offene, vernünftige Augen an, die Arme liegen weiss und zart an den Seiten; sieh, wie lang die Beine geworden sind. Jetzt wird das Antlitz von Sorgen beschattet, Lächeln überfliegt die Züge, süsse Wollust, Angst, Zweifel. Die Hände sind bereits gross und braun geworden. Und während Michel von den Zehen zum Kopf sieht, schwingt sich schon ein Bart wie eine dunkle Wehe um das Untergesicht, die Stirn wird vom Schmerz gerundet. Jetzt ist er schon ein reifer Mann, liegt einen Augenblick still da, mit seinem Inneren beschäftigt. Und nun ist er schon alt. Der Bart wird grau, die Haare fallen aus, die Knie ragen spitz in die Höhe. Alles sind Runzeln, das Fleisch welkt unter der Haut — und plötzlich legt sich der schwarze Rahmen um die Kläglichkeit des Alters —, ein Schimmer noch von gelben Knochen, und schon schrumpft der Deckel unter einem Regen von Erde zusammen.
Oh, die Erde holt sich die Ihren, schleudert sie zu Boden und streckt sie längelang auf ihre Scholle. Sobald du irgendwo löcherig geworden bist, sollen deine Rippen gegen die Erde klappern, und du sollst auf den Boden schlagen wie ein Pfahl, dessen Wurzel verfault ist.
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