Arthas – Aufstieg des Lichkönigs
von Christie Golden
Dieses Buch ist all denen gewidmet, die Warcraft -Geschichten lieben. Ich hoffe, ihr habt beim Lesen ebenso viel Spaß wie ich beim Schreiben.
Der Wind jammerte und heulte wie ein Kind mit starken Schmerzen.
Die Schaufelhauerherde drängte sich dichter zusammen, um sich zu wärmen. Das dicke, zottige Fell schützte die Tiere vor den schlimmsten Begleiterscheinungen des Sturms. Sie bildeten einen Kreis, in dessen Mitte die jungen Kälber zitterten und blökten. Die Köpfe, allesamt von schwerem Geweih gekrönt, senkten sie der schneebedeckten Erde entgegen. Ihre Augen hielten die Tiere zum Schutz vor den wirbelnden Schneeflocken geschlossen. Zu Eis gefrorener Atem bedeckte die Mäuler, als sie sich hinlegten, um den Sturm duldsam zu ertragen.
In ihren Höhlen warteten die Wölfe und Bären auf das Ende des Wettertobens. Die einen im Schutz ihres Rudels, die anderen allein und schicksalsergeben. So groß ihr Hunger auch sein mochte, nichts würde sie aus den Höhlen hinaustreiben, solange schneidender Wind wütete und dichter Schnee fiel.
Der Wind, der von der See her auf das Dorf Kamagua traf, zerrte an den Fellen, die an Gerüsten befestigt waren, welche man aus den Knochen großer Seewesen geformt hatte. Sobald der Sturm vorbei war, so wussten die Tuskarr, die hier schon seit unzähligen Jahren lebten, würden sie die Netze und Fallen reparieren oder ersetzen müssen. Mochten ihre Hütten auch noch so robust sein, machtvolle Stürme wie dieser beschädigten sie jedes Mal aufs Neue.
Die Tuskarr hatten sich ausnahmslos in der großen Gemeinschaftshütte versammelt, die tief in den Boden eingegraben war. Die Zeltplanen waren fest verzurrt und die Öllampen brannten qualmend.
Atuik, der Älteste, wartete mit stoischer Ruhe. Er hatte in den vergangenen sieben Jahre schon viele dieser Stürme erlebt und es waren beileibe keine gewöhnlichen.
Er war schon sehr alt, wovon sowohl die Länge und Gelbfärbung der Hauer, als auch die Runzeln seiner braunen Haut zeugten.
Er blickte auf die Kinder, die ringsum zitterten. Aber nicht vor Kälte. So etwas taten Tuskarrs nicht. Es war die nackte Angst, die sie dazu brachte.
»Er… träumt«, murmelte eines der Kiemen. Seine Augen leuchteten, der Bart sträubte sich.
»Still!«, zischte Atuik barscher, als beabsichtigt. Das Kind verstummte erschrocken und fortan war nur noch das Heulen der draußen tobenden Gewalten zu hören.
Wie aus Rauch bildete sich ein tiefer, dröhnender Hall. Er war wortlos, doch voller Bedeutung, ein Gesang, von einem Dutzend Stimmen getragen. Der Klang von Trommeln, Rasseln und klackernden Knochen bildete die wilde Untermalung für das getragene Rufen.
Der größte Teil des Windes wurde durch einen Wall aus Pfosten und Fellen von dem Taunkadorf abgehalten. Und die Hütten, deren gewölbte Dächer den Innenraum, wie um die Elemente herauszufordern, hoch überragten, waren stabil gebaut.
Man konnte den Wind noch über das tiefe, uralte Ritual hinweg hören. Der Tänzer, ein Schamane namens Kamiku, verpatzte einen Schritt und trat ungeschickt mit dem Huf auf. Doch er glich den Fehler aus und tanzte weiter.
Konzentration. Es ging immer um die Konzentration. So machte man sich die Elemente Untertan und zwang sie zum Gehorsam. So überlebten die Leute in einem Land, das hart und unversöhnlich war.
Der Schamane geriet beim Tanzen in Wallung. Schweiß verdunkelte sein Fell. Seine großen braunen Augen waren vor Konzentration geschlossen, seine Hufe fanden erneut den mächtigen Rhythmus. Er warf den Kopf zurück, seine kurzen Hörner durchstachen die Luft, der Schwanz zuckte.
Andere tanzten neben ihm. Ihre Körperwärme und die Hitze des Feuers, das trotz der Schneeflocken, die durch die Rauchöffnung im Dach eindrangen, und trotz des Windes brannte, hielten die Hütte warm und behaglich.
Sie alle wussten, was draußen geschah. Sie konnten diese Winde und den Schnee nicht kontrollieren, wie sie es sonst vermochten, denn dies war sein Werk.
Doch sie konnten diesem Angriff zum Trotz tanzen, feiern und lachen. Sie waren Taunkas – sie würden es überstehen.
Die Welt war blau-weiß und es stürmte. Doch drinnen in der Großen Halle war es warm und ruhig. Dicke Scheite nährten ein mannshohes Feuer, sein Knistern war das einzige Geräusch. Über dem verzierten Kaminsims, in den Darstellungen von wundersamen Kreaturen geschnitzt waren, befand sich das riesige Geweih eines Schaufelhauers. Geschnitzte Drachenköpfe dienten als Halterungen für die hell lodernden Fackeln. Schwere Balken stützten die Festhalle, die Platz für Dutzende Menschen bot. Das warme, goldgelbe Leuchten drängte die Schatten in die Ecken. Dicke Pelze von Eisbären, Schaufelhauern und anderen Tieren bedeckten den kalten Steinboden.
Ein Tisch, lang, schwer und reich verziert, beanspruchte den meisten Platz im Raum. Drei Dutzend Menschen hätten leicht daran sitzen können. Doch momentan hockten dort nur drei Personen: ein Mann, ein Orc und ein Junge.
Natürlich war diese Szenerie nicht real. Der Mann, der am Ehrenplatz des Tisches auf einem riesigen, erhöhten Stuhl saß, wusste das. Er träumte; er träumte schon seit einer sehr langen Zeit. Die Halle, die Schaufelhauer-Trophäen, das Feuer, der Tisch… der Orc und der Junge… alles war nur Teil seines Traums.
Der Orc zu seiner Linken war alt, doch er wirkte immer noch kraftvoll. Das goldgelbe Licht des Feuers und der Fackeln ließ das gespenstische Zeichen flackern, das auf seinem kantigen Gesicht prangte – ein aufgemalter Totenkopf. Er war Schamane gewesen, hatte über gewaltige Kräfte geboten, und selbst jetzt noch, in der Vorstellung des Mannes, wirkte er beeindruckend.
Der Junge war das nicht. Einst mochte er ein hübsches Kind gewesen sein, mit tiefgrünen Augen, heller Haut und goldenem Haar. Aber das war Vergangenheit.
Der Junge war krank. Er war dünn, so abgemagert, dass die Knochen seine Haut zu durchbohren drohten. Die ehemals leuchtenden Augen waren stumpf und lagen tief in den Höhlen. Eine dünne Schicht bedeckte sie. Pusteln überzogen seine Haut, eine grünliche Flüssigkeit sickerte daraus hervor. Das Atmen schien ihm schwerzufallen, und die Brust des Kindes hob und senkte sich unter kleinen keuchenden Atemzügen.
Der Mann glaubte das mühsam arbeitende Herz zu sehen, das eigentlich schon vor langer Zeit versagt haben sollte, doch stetig weiterschlug.
»Er ist immer noch hier«, sagte der Orc und wies mit dem Finger auf den Jungen.
»Er wird nicht bleiben«, sagte der Mann.
Wie um seine Worte zu bestätigen, begann der Junge zu husten. Er spie Blut und Schleim auf den Tisch und wischte sich mit seinem dünnen Arm, der in einem einst edlen, inzwischen aber zerschlissenen Ärmel steckte, über den bleichen Mund. Er lehnte sich zurück und sprach mit stockender Stimme. Offenbar strengte ihn das Reden an.
»Du hast ihn – noch nicht ganz. Und ich werde – dir das beweisen.«
»Du bist genauso närrisch wie übergeschnappt«, knurrte der Orc. »Diese Schlacht wurde schon vor langer Zeit gewonnen.«
Die Hände des Mannes schlossen sich um die Lehnen des Stuhls, während er den beiden zuhörte. Diesen Traum hatte er während der letzten Jahre immer wieder durchlebt und mittlerweile war es eher ermüdend als unterhaltsam. »Ich bin dieses Kampfes überdrüssig. Lasst ihn uns ein für alle Mal beenden.«
Der Orc lächelte den Jungen an, sein Totenschädelgesicht wirkte abscheulich. Der Junge hustete erneut, hielt dem Blick des Orcs aber stand. Langsam und würdevoll richtete er sich auf. Seine milchigen Augen blickten von dem Orc zu dem Mann.
»Ja«, sagte der Orc, »er führt zu nichts. Bald schon ist die Zeit des Erwachens gekommen. Die Zeit, um erneut in diese Welt vorzudringen.« Er wandte sich an den Mann und seine Augen leuchteten. »Geh den Weg weiter, den du eingeschlagen hast.«
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