Der Nachtwächter fang unten auf der Strasse — die Uhr hat eben vier geschlagen! In weiter Ferne wurde durch die weisse Morgenstille Trompete geblasen. Da taumelte Otte Iversen davon. Vor dem Garten lief er dem Nachtwächter geradeswegs in die Arme, und einige zornige, wachsame Worte tönten ihm in die Ohren. Er machte, dass er weiter kam. Es war ein nebliger Morgen. Hört, Pferdehufe schrappten in den geschlossenen Höfen auf dem Steinpflaster, alle machten sich fertig.
Hier und dort drang Licht durch die Türritzen, und leises Klirren von Waffen ertönte, man stand im Zimmer und legte den Harnisch um ... Otte Iversen lief, um in sein Quartier zu gelangen, er wollte auf der Stelle bis ans Ende der Welt laufen, kopfüber in Schlacht und Spektakel hinein — er musste aus seinem Herzen herausbrennen, was er getan hatte, vergessen, vergessen. Während er lief, drückte er unwillkürlich die Augen fest zu, weil er sie, die ihn so glühend liebevoll empfangen hatte, noch immer sah, er fühlte ihre Hände noch in seinem Haar. Oh, sie hatte seinen Kopf so fest, so fest gegen ihre Brust gedrückt — und er hatte im verborgenen an ihrem Herzen geweint ... Otte sprang in Erinnerung daran wie von einer Kugel getroffen in die Höhe. Verstört lief er durch die morgenbetauten Strassen.
In seiner Blindheit verirrte Otte sich und geriet in eine enge Gasse; er ging langsamer und bekam Erleichterung für die Qual seiner Kehle, indem er aus vollem Halse weinte. Er fühlte sein Leben von Pein bedrängt und fing wieder an zu laufen. Da sah er ein schmutziges Licht im Nebel, es kam aus dem erleuchteten Fenster eines kleinen, armseligen Hauses. Und wie ein Kind in seinem unermesslichen Kummer darauf verfallen kann, Kalk von einer Wand zu bröckeln, so trat Otte Iversen an das Fenster und guckte durch ein kleines, dreieckiges Loch im Fensterladen.
Er sah eine niedrige, unordentliche Stube. Gerade vor ihm, mit dem Rücken gegen das Fenster, stand ein Mann über einen Stuhl gebeugt; im Stuhl sass ein junges Weib, man sah nur ihre hellroten Ärmel und die Hände. Die beiden Gestalten verdeckten das Licht, das auf dem Tisch stand. Gerade in dem Augenblick, als Otte durch das kleine Loch guckte, sah er, wie der Mann seinen rechten Arm auf eine schleichende Weise hob — es sah aus, als ob er seine linke Hand auf ihre Stirn legte — Herr Jesus! Da schnitt er mit einer grossen ausholenden Bewegung dem Frauenzimmer die Kehle durch; ein erstickter, gurgelnder Laut, und der Mann drehte das Messer um und pflanzte es in die Brust seines Opfers, liess es sitzen, stemmte sein Knie gegen den Rücken des Stuhls und kippte ihn mit der Ermordeten gegen den Tisch. Das Licht erlosch.
Otte Iversen griff sich an den Kopf und wandte sich der Strasse zu, wie ein Verrückter vor sich hinstierend. Dann stürmte er davon, lief und lief, bis er ohne Mütze, mit zerzaustem Haar, sein Quartier erreichte. Vollkommen trostlos stürmte er zu seinem Pferd in den Stall.
Steine werden aus der Stadt getragen
Am nächsten Tag war das Heer fort, König Hans mit seinen Mannen, Landsknechten und Bauern, Fahnen und Sporen, Büchsen und Futtersäcken, alles war wie aus der Stadt gefegt. Die Strassen lagen von einem bis zum anderen Ende in greller Menschenleere, die Luft, die früher von Eisenklang und Prahlerei widergehallt hatte, schwieg reuevoll still. Seitdem die Gefahr nicht mehr so gross war, gelegentlich einen Fusstritt zu erhalten, kamen Hunde und Schweine allerwegen mutig zum Vorschein und schnüffelten in dem Abfall herum, den das Heer hinterlassen hatte. Die Stadt hatte wieder Zeit, ihren Blick nach innen zu richten. Am Mittag desselben Tages wurde der Galgen vor dem Westtor mit zwei alten Missetätern geschmückt, einem grossen und einem kleinen. Ferner wurden Untersuchungen eingeleitet wegen mehrerer in der Nacht begangener Verbrechen; unter anderem hatte man die Hamburger Lotte mit durchschnittener Kehle in ihrem Haus gefunden. Es hatte sich in der vergangenen Nacht allerhand ereignet; das war nicht zu verwundern, denn Herzen werden beim Gedanken an den nahen Abschied auf verschiedene Weise gerührt. Wer weg ist, kann nicht gehängt werden.
Nachmittags hatte sich ein kleiner Auflauf vor dem Rathaus gebildet. Dort sassen zwei im Pranger, ein Mann, der gestohlen hatte, und ein Weib, das auf Bühlerei ertappt worden war. Es war sehr jung und über alle Massen schön. Mendel Speyers Tochter Susanna war es. Der Nachtwächter hatte sie frühmorgens erwischt, als ihr Kunde sie gerade verliess. Er hatte Susanna schon lange im Verdacht gehabt, wegen der Zeichnungen, die die Leute so unzweideutig an die Mauer malten. Der Nachtwächter war einäugig, ein Schelm hatte ihm mal bei einer nächtlichen Rauferei das andere ausgestochen ... wäre Susanna, Mendels Tochter, dänisch gewesen und ihre Einnahme in der Stadt geblieben, so hätte der Nachtwächter wahrscheinlich sein sehendes Auge auch noch zugedrückt; er war ein Mann, der Recht von Unrecht zu unterscheiden wusste. Nun aber war Susanna ein schwarzes, ausländisches Ding. Darum wurde sie zur Schau gestellt, und wenn die Leute auf sie gespuckt hatten, sollte sie Steine aus der Stadt tragen.
Die Leute standen in einem Halbkreis dicht um den Pranger herum. Der Dieb sass wachsam, mit umherirrenden Blicken da; kam jemand ihm zu nah, kläffte und geiferte er mit seinen weissen Zähnen und schnappte durch die Luft wie ein toller Hund. Sogar seine Füsse, die durch die Löcher im Pranger steckten, zitterten vor Wut. Schliesslich wurde er etwas ruhiger, seine Züge erschlafften, er bekam einen vergrämten Ausdruck ... im selben Augenblick aber entdeckte er einen älteren, gut gekleideten Mann, der sich ihm mit einem Scherz auf den Lippen näherte — raj, raj, raj, da biss der Gefangene so wütend und raubtierähnlich um sich, dass der Mann erschrocken zurückwich. Die Leute lachten. Und sieh, das Gesicht des anständigen Mannes verhärtete sich, bekam einen gehässigen Zug; in einem Augenblick, als der bewaffnete Wächter nicht aufpasste, versetzte er dem Gefangenen im Pranger einen Fusstritt ins Gesicht, worauf er sich mit bösen Blicken umdrehte — seht den Schuft an! — und seines Weges ging. Der Dieb schimpfte, drei-, viermal, sah ihm mit stahlblanken Augen nach und knirschte mit den Zähnen, schrie aber nicht auf. Auf jeder Seite seiner Nase hatte sich ein leichenweisser Fleck gebildet.
In passendem Abstand, vier Löcher von dem Spitzbuben entfernt, sass Susanna. Die Füsse, die nackt waren, steckten im Block; manch einer fühlte sich versucht, sie unter den allerliebsten kleinen Füssen zu kitzeln. Sie hatte ein grünes Kleid an, über ihre Schultern hatte man einen groben Sack gelegt, der die Arme verbarg. Sie sass unbeweglich da, den Kopf auf die Brust gesenkt; das dicke, schwarzbraune Haar war voll von Spucke.
Nicht weit von ihr stand der alte Mendel Speyer in seinem schwarzen Judenkaftan; der Bart hing von den langen, bekümmerten Zügen herab; er stand gebeugt und sprach mit einem jungen brünetten Mann, den niemand kannte. Er war dünn wie ein Messer, hatte dichtes, krauses Haar und rötlichschwarze Rattenaugen. Es war ein Kaufmann aus Helsingör; Mendel Speyer hatte am Morgen nach ihm geschickt.
Der Schinder Jerck war inzwischen gekommen und hatte zwei grosse Steine zusammengebunden. Grösserer Vorbereitungen bedurfte es nicht. Bevor aber Susanna aus dem Pranger erlöst wurde, näherte ihr Vater sich zögernd und zweifelnd — mit seinen erloschenen Augen sah er zu dem Wächter auf, dann auf zwei kleine Schuhe herab, die er in der Hand hielt, und auf die blossen Füsse seiner Tochter — dann dieselbe Runde noch einmal. Der Wächter stützte sich auf die Hellebarde, sein brummiger Schnurrbart rührte sich nicht, er sagte nicht nein — aber bedeutete es ja? Mendel Speyer zögerte und war auf einen Rückzug gefasst, während er die Schuhe hastig und unbeholfen an Susannas arme kleine Füsse band. Er gab ihr die Hand und half ihr beim Aufstehen. Dann musste er aus dem Weg.
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