„Ich bin schon lange dem Untergang geweiht“, rief er geifernd und keuchend, „ich bin so armselig, dass selbst der Teufel mich nicht haben will. Aber es schadet nichts, es kann dennoch alles gut werden. Ich hänge die ganze Geschichte einfach an den Nagel und geh meines Weges, wenn ich nicht mehr mag. Nichts leichter als das. Hurra! Kommt und feiert mit mir, all ihr Toten und Hinkenden, ihr, die verbrannt oder um einen Kopf kürzer gemacht worden seid, hei, der Tisch ist gedeckt, sucht euch einen Platz, wie ihr geht und steht in euren Leichengewändern — hier ist Platz für alle, deren Backen in Fetzen hängen und deren Handrücken mit kleinen Steinen besetzt sind — heran, ihr Ertrunkenen und armen Seelen vom Galgenhügel! Ich bin einer der Euren und werde euren Besuch bald erwidern. Was geht mein Kopf mich an, ich stehe ganz allein in der Welt. Was kümmert es mich, ob es einen Vogel gibt, den man Strauss nennt, was kümmert es mich, ob in Frankreich ein Narr den Thron besteigt. Ich gehe nach Hause, denn ich kann nicht mehr aus den Augen sehen. Lebt wohl, lebt wohl!“
Das Boot lag vollkommen still im Sonnenschein, es war kein anderer Laut zu hören als das Glucksen des Wassers gegen den Schiffskiel. Der Schiffer und seine Leute hatten ihren Spass an Michel. Er trank, schluchzte, prahlte noch eine Weile, bald auf dänisch, bald auf latein, bis er schliesslich auf Deck hinfiel und wieder einschlief.
Es war Heuerntezeit, als Michel in sein Heimattal zurückkehrte, hoch oben in Jütland am Limfjord.
Die Nächte wurden kaum dunkel, und die Wärme nahm kaum ab, wenn die sanfte Dämmerung sich herabsenkte, sie Hüllte den Bach und die Ebene nur in Nebel ein. Das Heu wurde auf den Feldern zu Diemen aufgeschichtet, und das junge Volk aus drei umliegenden Dörfern blieb des Nachts auf den Feldern. Jeden Abend erklang der Ruf der jungen Burschen aus Kourum: Zu Bett, zu Bett! Der Ruf ging von Dieme zu Dieme; kurz darauf antwortete eine ferne, warme Mädchenstimme von den Grauböller Heudiemen: Zu Bett, zu Bett! Das Echo gab den Ruf von den Anhöhen zurück, als ob er von Gnomen gestottert würde. Und schliesslich klang es unendlich fern und nur in fadendünnen Bruchstücken:... Zu Bett! Das kam von den Diemen der Thorrilder Leute, weit hinten im Tal.
Bett, Bett, echote es von den Abhängen. Der Nebel verdichtete sich über dem Bach. Die Nacht lag in göttlicher Ruhe da, der Himmel breitete seine Schleier über die reine Stille.
Westlich und östlich vom Fjord erstreckte sich das Tal eine halbe Meile landeinwärts; an seinem östlichen Ende lag das Rittergut Moholm, das Iver Ottesens Witwe gehörte; ihr gehörten auch das Tal und die Dörfer.
Nicht weit vom Fjord lag das Haus und die kleine Wassermühle, wo Thöger der Schmied lebte. Dort hatte er schon über dreissig Jahre gewohnt. Ausser Michel, der nun schon seit acht Jahren an der Schwarzen Schule studierte, besass er noch den Sohn Niels, der das Handwerk des Vaters erlernt hatte.
Thöger war froh über die Heimkehr des Sohnes. Er setzte sich auf die Truhe und fing an zu schwatzen. Michel sah, dass des Vaters Beine von Gicht gekrümmt waren. Das breite, kräftige Gesicht, das heimlich die Rührung des Wiedersehens spiegelte, offenbarte unbarmherzig das Alter.
„Wie fein du bist“, sagte Thöger aufgeräumt und musterte blinzelnd Michels rote Lederhose.
Michel schlug die Augen nieder und wollte sich nicht bewundern lassen.
„Ja, ja, man kann sehen, dass du etwas auf dich hältst. Ein bisschen spitz bist du im Gesicht von dem vielen Studieren ... die Nase hast du von keinem Fremden“, fügte er schalkhaft hinzu. Thögers Nase war aussergewöhnlich lang, zweimal gebogen, wie der Rüssel eines Wildschweins, und kantig an der Spitze; sie gab ihm einen übertrieben schlauen Ausdruck, den Michel geerbt hatte. Thöger war übrigens ein sehr tüchtiger Mann, mit guten natürlichen Anlagen. In jungen Jahren hatte er eine Kunst betrieben, die er selbst Kochen nannte. Michel hatte als Kind bisweilen gesehen, dass er seltsame Dinge in einem Tiegel schmolz, Wolle, Blei, kleine rote Steine, Mausezähne. Nun aber kochte Thöger nicht mehr. Sein Verlangen nach dem Stein der Weisen hatte sich mit dem Alter verloren.
„Ich wollte Gold machen“, sagte der alte Thöger scherzend, und seine Vertraulichkeit schnitt dem Sohn ins Herz, weil sie von den hohen Jahren zeugte, „habe aber nie ein Goldkorn gefunden. Als ich es zum letztenmal versuchte — lass mal sehen, ach, das ist lange her, da bekam ich plötzlich einen Einfall, hahaha: wenn du nun das Rezept mitschmilzt, sagte ich mir, dann muss es dir gelingen! Das Rezept hatte ich einem Waffenschmied in Stettin abgekauft, vor langer, langer Zeit, keiner hat es je zu sehen bekommen, und er hatte mich auch gelehrt, es zu deuten. So schmolz ich denn das Rezept mit einem Haufen anderer kräftiger Dinge, Gold aber bekam ich nicht. Nein, Klein-Michel, na, und später hat es sich dann von selbst verloren.“
Thöger der Schmied war alt geworden. Auf seiner kahlen, gewölbten Stirn begannen zum zweitenmal Haare zu wachsen, der runde, weisse Bart wucherte bis über die Ohren. Das Gesicht war voll von bleichen Flecken, und auch die mächtigen Hände waren verblichen.
Für gewöhnlich versorgte der Alte die Mühle. Nur hin und wieder verfertigte er ein Stück Arbeit in der Schmiede; dann begab Niels sich finster und russig an den Blasebalg. Thöger stand mit zurückgelegtem Kopf vor dem Amboss, er war weitsichtig geworden und schmiedete kaltblütig mit unglaublicher Tüchtigkeit. Wahrlich, er wusste mit einem heissen Eisen umzugehen! Doch höchstens eine halbe Stunde, dann hielt er hastig inne, gebärdete sich, als sei ihm etwas eingefallen, und ging in die Stube. Dort sass er und schnappte nach Luft und versuchte die verräterische Atemnot zu verbergen.
„Sieh mal, was ich hier habe“, rief der Alte eines Tages und wühlte in einem kleinen Holzkasten zwischen alten Knöpfen und Metallresten, „wo ist er nur geblieben? ’s ist nämlich ein falscher Schilling — wenn ich ihn nur finden könnte! Hab’ ihn viele Jahre aufgehoben, bis du nach Hause kämst. Ich kann ja nicht lesen, was drauf steht, wenn auch meine Augen dazu taugten, denn es ist wohl Latein. Hier ist er, ich hab’ ihn mal in der Erde gefunden. Na, Michel, was steht darauf?“
Michel beugte sich feuchten Auges über die grünspanige Münze und deutete die Inschrift.
„Nun sollst du sie auch haben“, sagte Thöger, sehr zufrieden mit dem Wissen des Sohnes. „Sie ist aus gutem Silber.“
„Danke.“ Michel nahm die Münze und verwahrte sie; er trug sie von nun an stets bei sich.
Während der ersten Tage umfasste Thöger seinen Sohn manch liebes Mal mit einem gedankenvollen Blick.
„Ja, ja, es geht im Leben gar seltsam zu“, sagte er, „keiner weiss, was in einem Menschen steckt: da ist der Sohn des Schuhmachers in Bröndum, der hat es weit gebracht; man sagt, dass er ein grosser Mann bei Hofe sei.“
„Das stimmt“, antwortete Michel unruhig. Der Besuch bei Jens Andersen tauchte mit peinlicher Deutlichkeit vor ihm auf. „Er hat aber auch Geld gehabt, um in Rom und Paris zu studieren.“
„Das mag wohl sein“, murmelte Thöger, und seine Züge erschlafften beim Gedanken an die weite Welt. Er war selbst ausser Landes gewesen, aber nur bis nach Norddeutschland gekommen.
„Das mag wohl sein“, wiederholte Thöger und drehte seine Daumen umeinander. „Hast du den Junker vom Gutshof gesehen, Herrn Otte, wie er genannt wird?“
Die Frage kam so unerwartet, dass Michel von der Bank in die Höhe fuhr. „Wen, wo?“
„Unseren jungen Burgherrn. Hast ihn wohl nicht gesehen, er ritt im Frühjahr nach Kopenhagen. Ja, ja, das ist eine seltsame Geschichte.“
Michel schüttelte den Kopf und wandte sich ab, als interessiere ihn die Geschichte nicht.
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