Und die Zeit schlich dahin, es wurde dunkler und dunkler. Auch die Stille nahm zu. Alles veränderte sich unmerklich und unwiderruflich, wie für einen Sterbenden. Die Luft gerann beim leisesten Laut. Das Entsetzen reckte sein versteinertes Gesicht mit weit geöffnetem Mund durch die Stille.
Als die zwölf Schläge endlich vom Turm erklangen, war Michel so elend, dass er kaum aufstehen konnte. Er glaubte nicht mehr an sein Vorhaben, es hatte ja doch keinen Zweck. Aber obgleich er nicht mehr daran glaubte, wollte er es doch ausführen. Und Michel schlich zur Kirchentür mit seinem Pergamentstreifen in der Hand, worauf er die Teufelsbeschwörung geschrieben hatte. Er beugte sich zum Schlüsselloch herab — und fuhr zurück, von einem kalten Luftstrahl unterm Auge getroffen. Ohne zu zögern blies er durch das Schlüsselloch und klopfte dreimal mit dem Knöchel gegen die Tür, während er alle Titel und Ehren des Bösen hersagte.
Satan aber hütete sich und kam nicht.
Da tat Michel einen tiefen, beschämten Seufzer und trollte sich davon. —
Am Mittag desselben Tages geschah es, dass Otte Iversen durch die Pilesträde ging und Mendel Speyers Tochter sah. Er war mit seinen Gedanken beschäftigt — morgen sollte er fort. Wie mochte es Ane Mette gehen, Ane Mette mit dem teuren, blonden Haar? — Da sah er Susanna. Er ging weiter, ohne sich ihrer zu erinnern.
Des Abends sass Otte Iversen draussen bei seinem Pferd. Seine Ausrüstung war in Ordnung, alles war bereit. Was sollte er beginnen? Das Herz sass ihm in der Kehle, er konnte sich vor Heimweh und Sehnsucht nicht ruhig verhalten. Es war schon spät geworden, sein Blut aber wollte sich nicht beruhigen.
Er ging hinaus, streifte durch die Strassen und kam durch die Pilesträde, an dem Garten vorbei, wo er einen Schimmer von einem schwarzhaarigen Mädchen gesehen hatte. Er rüttelte zornig zwei Stäbe aus dem Gitter heraus und schoss kopfüber wie ein Hirsch durch die Büsche auf den Gartenweg. Zur Linken ertönte ein leiser Schrei, er hörte jemand fliehen, das weiche Rauschen eines Kleides; da sprang er blindlings von seinem Instinkt geführt über Gras und Unkraut, schlüpfte um einen Zaum herum und fing sie.
Er gab sie sofort wieder frei und liess die Arme sinken. Eine Weile standen sie sich gegenüber, er konnte sie nur undeutlich sehen, hörte sie aber hastig atmen. Ein Zweig, der herabgedrückt worden war, löste sich wieder und strich Otte mit flaumigen, kühlen Blättern übers Gesicht.
Plötzlich machte sie eine hastige Bewegung, als wollte sie fliehen.
„Nein“, stammelte Otte flehend und streckte schnell beide Arme nach ihr aus.
„Wie, wie ...?“ flüsterte sie heiser. Zitterte sie, reckte sie sich auf den Zehenspitzen — Otte sah sie und konnte sie im Dunkeln unter den Bäumen doch nicht erkennen. Da legte er seine rechte Hand auf ihr Haar, das von Tau feucht war. Er seufzte klagend, zog seine Hand zurück und fragte leise:
„Wie heisst du?“
„Susanna“, entwortete sie atemlos flüsternd. Im selben Augenblick entwisch sie seitwärts, stiess gegen den Baum, schwang sich um den Stamm herum und war fort. Die Büsche raschelten laut, als sie sich hinter ihr schlossen, und fuhren fort zu nicken. Schliesslich war wieder alles still.
Otte Iversen sah nach oben. Der Sommerhimmel wölbte sich über dem Garten, die frommen Sterne funkelten. Zu beiden Seiten des Gartens standen die dunklen Dreiecke der Giebel. Sie war fort! Otte kehrte langsam zur Strasse zurück, ihm war zum Ersticken schwer ums Herz. Wenn er mit dem Fuss das tiefe Gras aufwühlte, spürte er den kühlen Geruch von Kräutern und Erde. Nein, er konnte den Garten noch nicht verlassen. Er folgte dem Gang hinter dem Gebüsch und kam zu einem Holunderstrauch.
Dort drinnen hatte sie sich versteckt; Otte fand sie, als er sich mit ausgestreckten Armen vorwärts tastete, seine Hände stiessen gegen ihr Haar. Sie gab keinen Laut von sich, zog nur den Kopf tief zwischen die Schultern und zitterte. Otte legte sich auf die Knie und wollte sie an sich ziehen; sie aber drückte sich hartnäckig in das dichte Geäst des Holunderstrauchs. Otte rutschte ihr auf den Knien nach und stiess gegen die Kante eines Tisches, der in der Laube stand.
„Susanna“, flüsterte er, „Susanna.“ Er wiederholte den Namen und war ruhiger geworden. Sie sprang hastig auf. Er aber hielt sie mit beiden Armen um Rock und Knie gefasst.
„Wer bist du?“ fragte sie bebend.
Statt zu antworten, lachte er leise, versunken, er spürte die Wärme ihres Körpers; ihr Kleid fühlte sich rauh und grob an, doch rieselte es ihm dabei glücklich durch beide Hände. In seiner Freude zwang er sie vor sich auf die Knie, fasste sie behutsam um das Haar und die heissen Wangen und wollte ihren Kopf zu sich herumdrehen. Es glückte ihm auch — aber da narrte sie ihn und wandte schnell das Gesicht nach der anderen Seite. Otte zwang ihren runden, widerstrebenden Kopf abermals zu sich herum — da gab sie unerwartet nach und drehte den Kopf nach der entgegengesetzten Seite.
„Nein, nein“, flüsterte Otte entzückt, er war in seinem guten Recht, gebrauchte Gewalt und zog sie an sich; sie aber stemmte ihm Knie und Ellbogen entgegen. Er reckte den Hals, und es glückte ihm, sie zu küssen, bevor sie wusste, wie ihr geschah; er küsste sie noch einmal, bekam aber nur einen kleinen, festgeschlossenen Mund zu schmecken — plötzlich aber streckte sie sich langsam, gutwillig unter ihn, und er hielt sie in ihrer ganzen demütigen Länge, schmal und fügsam in seinen Armen. Otte küsste sie wieder, und ihr Mund entfaltete sich wie eine Rose mit vielen schwellenden Blättern. Es rann ihm bitter durch die Kehle, und er zog sich scheu zurück. Noch einmal küsste er Susanna und begegnete ihrem Feuer, und da wurde er zaghaft und drückte sich tief verstimmt in das kühle Laub des Holunderbusches. Susanna aber legte ihren Kopf auf seine Brust unter sein Kinn.
So sassen sie lange. In der Stadt war alles still. Die Mitternachtsglocken fielen mit tiefen, hallenden Schlägen ein. —
„Morgen brechen wir auf“, sagte Herr Otte. Das war doch nicht traurig, und das konnte nicht der Grund sein, weshalb Otte Susannas Haupt mit einem tiefen Seufzer hob.
„Bist du traurig?“ fragte Susanna.
„Wie?“ Seine Stimme hatte einen metallenen Klang bekommen. „Ja“, antwortete er lange nachher tonlos. Susanna biss und küsste die Knöchel seiner Finger.
Otte hörte Schritte auf der Strasse und lauschte eine Weile angestrengt — sie verhallten, und er vergass sie.
Es war aber Michel Thögersen, der draussen vor dem Holunderbusch stand. Er war vorbeigegangen und hatte das Loch im Gitter gesehen. Und er blieb regungslos stehen, bis er die Kirchenglocken eins über die schlafende Stadt verkünden hörte. Da kamen die beiden zum Vorschein, und Michel erkannte Otte Iversen. Er sah, wie sie durch die Büsche des öden Gartens schlichen, wo alte, schiefe Stämme in der duftenden Wildnis standen, ergraute Urwesen, die ihre Äste hierhin und dorthin streckten, als wüssten sie selbst nicht, wohin sie mit ihrer knöcherigen Lebensweisheit deuten sollten.
Otte gelangte über die Stiege in Susannas kleine Mädchenkammer, sie führte ihn bei der Hand. Hier, wo der Schein der Sommernacht durch die Luke fiel, sah er, wie schön sie war, dunkel und weiss wie die Nacht und der Tag, ein Sonnenkind aus einer Welt, die er nicht kannte — sieh, sie war schimmernd weiss und von güldener Bräune beschattet, als wäre sie sonnverbrannt gewesen, bevor sie heranwuchs und weiss wurde. Und ihr Blut war wie die Nacht und der Tag, wild und unschuldig. — Otte beugte sich, von ihrer Glut geblendet, zog sich erschrocken in sich selbst zurück und dachte an Ane Mette. Aber je kummervoller ihm zumute wurde, desto reicher strahlte Susannas Gefühl, Wonne und Angst; sie wurde glückselig bei diesem lichtscheuen Schmerz, sie liebte ihn, weil er schwieg und seine Augen voll fremder Verzweiflung waren. Dreimal lockte sie ihn mit ihrer goldbraun beschatteten Brust, von Zärtlichkeit glühend, und dreimal wich er zurück, als wäre sie sein Tod, bis er sie ganz gebrochen und heimlich weinend in seine Arme nahm.
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