…Als Anders Graa sein Pferd erschossen hatte, wurde es dem Schinder übergeben. Er schlachtete und zerlegte es draussen im Schnee, Michel stand dabei und sah zu.
Es war an einem frühen, mondklaren Frostmorgen. Der Schnee breitete sich meilenweit in dem geisterhaft schwachen Kerzenlicht im Westen, weit über die Felder blaute der Schnee, lag wie ein weisses Florgewebe über den Hügeln, niemand konnte unterscheiden, was weisser Dunst, was schneebegrabenes Land war. Es war so kalt, dass der Schnee laut unter den Füssen knirschte, die Kälte ätzte die Finger wie mit einer tröpfelnden Säure. Durch die Ebene aber kroch offen und schwarz der Bach, unheilbar lebendig zwischen den erfrorenen Feldern.
Der Schinder zerrte Anders Graas Pferd auf den Rücken und fing an, es zu öffnen. Das Blut bildete eine grosse, braune Pfütze, die sich in den Schnee frass, der hellrote Schaum gefror bald zu Eis. Mit jedem Messerschnitt quoll eine Farbe aus dem dampfenden Pferdekörper, das Fleisch spielte in wunderbar blauen und roten Tönen. Und die Fasern fuhren fort, sich zu bewegen, krampften sich zusammen und bebten in der Frostluft; die durchschnittenen Muskeln Krümmten sich wie Würmer im Feuer. Die Lange Luftröhre kam an den Tag, die Backenzähne lagen offen da wie vier Zeilen mystischer Buchstaben. Eine hellrote Haut kam zum Vorschein, die mit zahlreichen blauen Adern gemustert war, wie ein flussreiches Land aus der Vogelperspektive. Als die Brust geöffnet wurde, bot sich eine Höhle dar; grosse weissblaue Häute hingen herab, braunes und schwarzes Blut floss aus kleinen Löchern in den geäderten Wänden, das gelbe Fett hing in länglichen und tropfenden Bündeln. Die Leber war brauner als irgend etwas in der Welt, die Milz blau und schimmelig wie die Nacht und die Milchstrasse. Und da waren noch viele reine Farben, blaue und grüne Eingeweide, ziegelsteinrote und ockergelbe Teile.
Alle üppigen, rohen Farben des Orients. Gelb wie der Sand Ägyptens, türkisblau wie der Himmel über dem Euphrat und Tigris; alle schamlosen Farben Indiens und des Orients blühten mitten im Schnee empor, unter dem schmutzigen Messer des Schinders.
Kopenhagen füllte sich mehr und mehr mit Menschen, während die Wärme zunahm. Die Lehnsmannen waren mit ihren Leuten gekommen und lagen überall im Quartier; einberufene Bauern kamen täglich in Scharen zur Stadt; Kopenhagen schwitzte vor Kriegsvorbereitungen. So standen die Dinge — ohne innere Notwendigkeit —, jeder Sommer brachte seiner Natur zufolge Unruhe und Menschenandrang mit sich. Um die Zeit der Roggenblüte sassen die Bauern jedes Jahr scharenweise auf den Treppen der Häuser, jeder Mann hockte eifersüchtig auf seinem Futtersack. Da kamen grosse Butterbrote aus der Gegend von Ringsted oder vom Himmelberg zum Vorschein, ganz schief und krumm vom langen Liegen; gesalzene Flundern aus Blaarvandshuk wurden nachbarlich mit Räucherschinken aus der Heidegegend verzehrt. Reiter, Deutsche, Junker schwärmten von morgens bis abends durch die Strassen. Es war im Juni, die Zeit, wo man sich zusammenrottet; die Schiffe lagen bereit, der König eroberte Schweden jedes Jahr um diese Zeit.
Es war in der Dämmerung, am Tage vor der Abreise des Heeres. Michel Thögersen bückte sich nach einer Speckschwarte, die auf die Strasse geworfen war; nicht weit davon fand er die Pelle einer Blutwurst. Er war auf dem Weg zur Stadt, um ein gewisses Vorhaben auszuführen; auf der Brust trug er einen Zettel, den er am Morgen geschrieben hatte.
Just als Michel an einer hohen Treppe vorbeiging, bekam er einen sausenden Hieb in den Nacken — ein wohlgekleideter Mann, der vor seiner Tür die Abendluft genoss und dem Michel zu nah gekommen war, hatte ihm mit seinem Stock den Schlag versetzt. Na, na. Michel schüttelte sich, der Hieb hatte die empfindlichste Stelle des Rückenwirbels getroffen. Er ging einige Schritte weiter. Vielleicht war es eine gute Vorbedeutung für das, was er vorhatte. Plötzlich aber machte er kehrt, packte den Mann am Fuss und riss ihn mit einem Ruck von der Treppe herunter, so dass er rittlings auf einem Pfahl des Gitters hängenblieb, einen lauten Schrei ausstiess und in Ohnmacht fiel. Michel floh um die nächste Ecke.
„Haltet ihn — haltet ihn... den da!“, erklang es vom gegenüberliegenden Fusssteig. „Da soll doch —!“
Laute Rufe. Michel wurde scharf verfolgt, aber er lief und lief, setzte mit einem Sprung über den Deich und stand auf dem Kirchhof. Dort legte er sich nach Atem ringend zwischen den Gräbern nieder.
Es war noch nicht ganz dunkel. Michel dachte vorläufig nur an die Wurstpelle, die er gefunden hatte, zog sie hervor und tat sich daran gütlich; Michel war noch nie im Dunkeln auf dem Kirchhof gewesen, sonst pflegte er hier nur am Tage zu schlafen. Je mehr die Dunkelheit zunahm, desto wachsamer wurde er; er sah sich um und begann vor Aufregung zu zittern; schnell legte er sich nieder und grub seinen Kopf in das hohe Gras.
Nachdem er eine Weile so gelegen hatte, hörte er ein knisterndes Geräusch — jetzt beugte Satan sich gewiss über ihn und lachte. Michel fuhr wild in die Höhe, aber es war niemand da.
Die Kirche ragte schwarz und unselig zum Himmel, undeutlich, wie ein Klumpen verdichtete Dunkelheit. Michel zitterte vor Entsetzen, richtete sich auf und rief unwillkürlich den Bösen an; er fluchte fürchterlich — beim siedend heissen Höllenfeuer! Die Gräber lagen schweigend und mit Bosheit geladen da. Kreuze und Steine grinsten mit brutaler Vertraulichkeit durch die Dunkelheit — alles Übelgesinnte, das unsichtbar ist und sich hütet zu erscheinen, schwebte in der Nähe und blies Michel ins Gesicht. Er bebte, sah drohend vor sich hin und murmelte den Namen Satans in seiner Bedrängnis.
Michel zwang sich, in ein und dieselbe Richtung zu sehen, um der Hölle freies Spiel im Rücken zu lassen, die Todesangst trieb ihn, sich eine Blösse zu geben. Wenn er sich jetzt umdrehte, würde ein hässlicher Affe wie aus der Erde gewachsen lautlos hinter ihm stehen — von Angst bis zum äussersten getrieben, drehte er sich um, aber es war nichts zu sehen. Die Zähne schlugen ihm im Munde zusammen. Das Tier würde sicher noch kommen, würde sich auf ihn legen mit seiner ganzen Schwere, und er würde sich vergeblich zu wehren versuchen. Keine Erklärung, kein Wort, das Tier würde nur die zottige Hand über seinem Kopf erheben, zwei Finger spreizen und auf ihn zielen. Michel überlegte hastig, ob es kein Mittel gegen diese verhasste Macht, gegen dieses Fingerpaar gäbe, das auf seine Augen zielte — ach nein! Oh! Da grub der Böse schon beide Finger in seine Augen. Oh! Wieder. Michel lag ohnmächtig auf seinen Knien und drückte den Kopf in den Nacken — oh! Der Böse grub beide Finger in seine Augen.
Lange forderte Michel die feigen Mächte heraus — kommt nur heran! — obgleich er sich mehr fürchtete als der verzweifelte Spatz, der sein Junges vor dem Maul des Hundes verteidigen will. Die Bosheit um ihn her aber schien ihn totschweigen zu wollen. Die Kreuze standen behaglich da, wie ein Kapital von Fluch und Entsetzen, das mit Zins und Zinseszins angelegt ist; selbst die dunkle Luft umgab ihn mit ihrem Inhalt von giftigem Spott, die Dunkelheit stach ihn von hinten. Nichts gab sich ehrlich zu erkennen, die stille Grausamkeit gönnte ihm nicht den Gnadenstoss.
In drei Teufels Namen! Michel legte sich nieder und schwur, dass er Ruhe haben wollte. Er fühlte nach seiner Brust, ob der Zettel noch da sei. — Aber schon begann ein Zweifel die Oberhand zu gewinnen. — Michel war von Natur ein Heide; das einzige, was er und sein Geschlecht im Laufe der Zeiten von der Religion gelernt hatten, waren die Flüche. Hatte das Ganze überhaupt einen Sinn?
Aber er fürchtete sich, die Aufregung schüttelte ihn, er fieberte vor Schreck, während die Mitternachtsstunde heranrückte. Kalter Schweiss stand ihm auf der Stirn, die Tropfen rollten von Haar zu Haar auf seine Brust herab, die Angst warf sich auf den Leib, so dass er auf der Stelle der Natur folgen musste.
Читать дальше