Heute aber schien das alles vergessen zu sein. Für drei selige Ferienwochen hatte sie alle Fesseln abgestreift, und heute war nun der Höhepunkt dieser sorgenfreien und beschwingten Stunden. Sie wollte nicht an das Morgen und an die kommenden Pflichten denken, einmal wollte auch sie nichts anderes sein als ein junger Mensch, der sich seines Daseins freut.
„Gefällt es Ihnen, Fräulein Lindberg?“ fragte Frau Steffen und schaute ihr erwartungsfroh in die Augen.
„Ich finde es ganz nett“, antwortete Birgit, und Frau Steffen erkannte trotz der Maske, die das halbe Gesicht des jungen Mädchens verdeckte, das Strahlen ihrer Augen.
„Sie bereuen es also nicht, mit mir gegangen zu sein?“
„Das kann ich doch jetzt noch nicht sagen“, gab Birgit zurück, „der Abend hat ja erst begonnen.“
Das war zwar eine Einschränkung, aber Frau Steffen war weit davon entfernt, sich darüber zu grämen. So war dieses Fräulein Lindberg nun einmal, sachlich bis zur letzten Konsequenz. Sie hätte sich schon vorher sagen können, daß sie auf eine solche Frage keine begeisterte Antwort bekommen würde.
„Dann wollen wir uns schleunigst eine Flasche Wein bestellen“, schlug Frau Steffen vor. „Welche Marke bevorzugen Sie denn?“
„Darin bin ich nun wirklich nicht sachverständig“, antwortete Birgit lachend. „Aber ich erinnere mich, daß ich bei der Geburtstagsfeier meines früheren Chefarztes mehrere Gläser Bordeaux getrunken habe, die mir ausgezeichnet geschmeckt haben.“
„Gut, trinken wir einen Bordeaux!“ stimmte die Marketenderin zu, die sich nun in Positur setzte, wie es das Kostüm vor ihr verlangte.
Bevor der Wein kam, spielte die Kapelle zum Tanz. Und Birgit gehörte zu den ersten Damen, die aufgefordert und zur Tanzfläche entführt wurden. Ihr Tänzer war ein Torero mit einem großen, lackledernen Hut und einem knallroten Schal.
Sie tanzte hingerissen, denn ihr Tänzer führte sie gut, und die Musik ging ins Blut. An Unterhaltung dachte sie nicht, so sehr auch der Torero versuchte, ein paar Worte aus ihr herauszulocken. Birgit wollte eben tanzen, nichts als tanzen, und der Mann, der sie dabei in den Armen hielt, war ihr nur Mittel zum Zweck, das sie wohl oder übel in Kauf zu nehmen hatte. Es kam zu keinem anderen persönlichen Kontakt als eben dem, den der gleiche Grad ihrer Musikalität in ihnen auslöste. Und der war unterbrochen, sobald der Tanz abbrach.
So war es bei Birgit bisher immer gewesen, so war es auch heute.
Doch das war plötzlich alles ganz anders, als die Kapelle zum dritten Male an diesem Abend ansetzte und plötzlich ein Herr im Frack vor ihr stand und sich verbeugte. Als sie aufschaute, sah sie eine gehörnte Maske. Es war für sie nicht schwer zu erraten, daß sie einen modernen Mephisto vor sich hatte.
Der Mann ging schweigend neben ihr zur Tanzfläche. Als er aber seinen Arm um ihre Taille legte, war es ihr, als durchzuckte sie ein elektrischer Strom. Aber das hatte seltsamerweise nichts Erschreckendes für sie, im Gegenteil, sie fühlte sich in seinem Arm sicher und geborgen.
Der Mephisto war ein guter Tänzer, er war aber auch ein großer Schweiger, denn zunächst sprach er nicht ein einziges Wort. Und Birgit sah keine Veranlassung, nun von sich aus zu sprechen und eine Unterhaltung zu bestreiten.
Und dennoch vermißte sie durchaus nichts. Der Tanz nahm sie so vollauf in Anspruch, daß sie gar nicht auf den Gedanken kam, ihr Tänzer versäume es, ihr gegenüber eine gesellschaftliche Pflicht zu erfüllen. Sie konzentrierte sich ganz darauf, wie er sie mit leisem Druck seiner Hand durch das Gewoge der tanzenden Paare führte. Seine Rechte lag auf ihrem Rücken, aber von dieser Hand ging ein Strom aus, der sie bis in die Fingerspitzen hinein vibrieren ließ. Und wenn es einmal vorkam, daß sein Griff sich lockerte, beugte sie sich weit zurück, nur um noch einmal diese Hand zu fühlen, die ihr Inneres in Aufruhr setzte. Es war ein erregendes Spiel.
Plötzlich bemerkte sie, daß er sie unentwegt anschaute. Da fühlte sie sich entdeckt und durchschaut, und das Blut schoß ihr ins Gesicht. Glücklicherweise verhinderten Maske und Puder, daß ihr Tänzer dies bemerken konnte.
Sie sah, daß er dunkle Augen hatte. Als sie seinen Blick erwiderte, spielte ein Lächeln um seinen Mund, das ihr irgendwie vertraut vorkam und ihr die Befangenheit nahm. Da lächelte auch sie.
„Sie tanzen wunderbar!“ sagte der Mann. Es schien mehr eine Feststellung als ein Kompliment zu sein. Vor Männern, die Komplimente machten, war sie auf der Hut, denn hinter jedem Kompliment steckten meist recht egoistische Wünsche. Aber bei diesem Mann hatte sie nicht das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen.
„Vielleicht liegt es daran, wie Sie mich führen“, gab sie zurück.„Ich habe in meinem Leben viel zu wenig getanzt, um beurteilen zu können, ob ich etwas davon verstehe.“ Sie lächelte abermals, aber es war ein wenig Verlegenheit in ihrer Stimme, denn sie kam sich im gleichen Augenblick so klein und unbedeutend vor.
„Dann ist es eine Naturbegabung!“ sagte er, und wieder war es eine Feststellung, die er wie einen Grundsatz und etwas Unwiderrufliches aussprach. „So geht es mit vielen Dingen im Leben: entweder man kann sie, ohne die geringste Mühe auf sie verwendet zu haben, oder man lernt es nie. Das haben Sie doch sicher auch schon erfahren, nicht wahr?“
„Im Augenblick wüßte ich kein Beispiel“, gab sie zur Antwort, „aber mir scheint, Sie haben durchaus recht!“
In diesem Augenblick brach die Musik ab. Sofort ließ er sie los und bot ihr den Arm, um sie an ihren Tisch zurückzubringen.
„Ich werde mir erlauben, Sie beim nächsten Tanz noch einmal zu bitten!“ sagte er und verbeugte sich.
„Bitte!“ antwortete sie, ohne lange zu überlegen.
Als er gegangen war, drang der Sinn seiner Worte erst in ihr Bewußtsein ein. Wie hatte er gesagt? Ich werde mir erlauben ... Als ob es an ihm wäre, hier etwas zu erlauben! War es denn eine Auszeichnung oder gar eine Gnade, daß er zu ihr kam? Wer hier etwas zu erlauben hatte, das war doch sie, nur sie allein! Fast war sie geneigt, sich über die Anmaßung, die in seinen Worten zu liegen schien, zu ärgern.
Aber dann dachte sie daran, wie er sie geführt hatte. Und noch in der Erinnerung verspürte sie jenes seltsame Prickeln, das ihre Nerven bis in die Fingerspitzen hinein hatte vibrieren lassen.
„Sie hatten ja einen tollen Tänzer!“ sagte in diesem Augenblick jemand in ihrem Rücken. Als sie sich umschaute, hob die Marketenderin lachend ihr Glas und trank ihr zu.
„Meinen Sie seine Maske oder die Art, wie er tanzte?“ fragte Birgit interessiert.
„Beides, mein Kind, natürlich beides! Mephisto im Frack, schon der Gedanke daran läßt mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen! Ich glaube, in seinen Armen könnte selbst ich noch schwach werden.“
„Sie übertreiben, Frau Steffen! Zugegeben, der Frack steht ihm ausgezeichnet, so ist damit doch immer noch nicht gesagt, daß sich unter seiner Maske ein routinierter Verführer verbirgt. Vielleicht ist er ein ganz harmloser Volksschullehrer oder gar ein kleiner Angestellter, der hier für ein paar Stunden den großen Herrn spielt.“
„Das glauben Sie doch selbst nicht, Fräulein Lindberg“, antwortete die Marketenderin und schüttelte den Kopf über so viel Weltfremdheit. „Dem liegt das Tanzen im Blut, der versteht sich auf den Umgang mit Frauen!“
„Nun, wenn schon!“ meinte Birgit wegwerfend. „Mir kann er nicht gefährlich werden!“
„Abwarten, mein Kind, ganz schön abwarten! Noch ist nicht aller Tage Abend, und das Fest beginnt ja erst!“
Frau Steffen spreizte sich und nickte siegesgewiß mit dem Kopf. Schließlich besaß sie ein gerüttelt Maß an Lebenserfahrung, und außerdem hatte sie Augen im Kopf. Der Mann wußte genau, was er tat.
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