1 ...6 7 8 10 11 12 ...34 Tom Browns Schuljahre , eins der meistverkauften Bücher des 19. Jahrhunderts, ist eine Mischung aus moralisierenden Memoiren und Wunschdenken seitens des Autors Thomas Hughes, ein Schüler in Rugby in den 1840er Jahren. Das Buch sollte über Generationen das Bild einer Sportethik bestimmen, wie man sie an den Privatschulen erlebte. Bei näherer Betrachtung wird die schwerfällige Didaktik, moralische Blasiertheit und süßliche Sentimentalität hier und da von subversiveren Gedanken durchbrochen – eine kaum verschleierte Homoerotik, Anflüge echter menschlicher Wärme sowie eine Verachtung der grausamen und gewalttätigen Exzesse in diesen abstoßenden Institutionen –, aber mit näheren Betrachtungen hatte Coubertin wenig am Hut. Er argumentierte, es sei »oberstes Ziel der englischen Lehrmeister, Männer zu formen, um andere zu führen«.
Was die Frage anging, wie die Engländer das anstellten, war die Antwort ganz simpel: »Alle, die ich zu diesem Thema befragt habe, waren sich einig: Der Schlüssel hierfür ist die Schulmoral, und sie verkünden lauthals, dass der Sport die Ursache dafür sei.« Coubertin glaubte fest daran, dass dies alles das Werk von Thomas Arnold war, der als Rektor der Rugby School ab 1828 dort reformerisch tätig war. Kein Wunder, dass diese Schule dann auch der Schauplatz seiner eigenen berühmten Erleuchtung war: »Im Zwielicht, allein in der großen gotischen Kapelle von Rugby, meinen Blick auf die große Begräbnisplatte gerichtet, in die, ohne Epitaph, der große Name von Thomas Arnold eingemeißelt war, wähnte ich, vor mir den Grundstein des Britischen Empires zu sehen.« 6
Ob diese Darstellung von Arnolds Einfluss und Coubertins Aufenthalt in Rugby ein »bewusst kreierter Mythos« 7ist oder eine Form »tiefer und vielfach bedingter Wunscherfüllung«, wie seine Biografen argumentieren, sie war auf jeden Fall unrichtig. 8In Wirklichkeit stand Arnold dem Sport ganz und gar gleichgültig gegenüber; bisweilen schaute er dem Treiben vom Spielfeldrand aus zu, aber er war weder Teilnehmer noch Fürsprecher. Grundstein seiner erzieherischen Revolution waren nicht etwa Spiele, sondern das Einimpfen von Religiosität, um so christliche Gentlemen zu formen. Dazu wurde dem moralischen und emotionalen Wohl der Schüler etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als es bis dahin der Fall war. Gleichzeitig waren Disziplin und Ordnung von nicht minderer Bedeutung. Arnold war besessen von der angeborenen Sündhaftigkeit junger Burschen. Sein Regime machte freigebigen Gebrauch von körperlicher Züchtigung, wie es die Norm war in England. Auch der hinlänglich bekannte Missbrauch des abscheulichen Fagging-Systems, in dem jüngere Schüler niedere Dienste für die älteren verrichten mussten, war weiterhin gang und gäbe.
Coubertin gelang es, dies alles in seinem Bericht unter den Teppich zu kehren. Tatsächlich waren die sportlichen Traditionen von Rugby und anderen Privatschulen das Werk einer jüngeren Generation von Lehrern. Obgleich sie sich nach Arnold richteten, waren sie der Meinung, dass Spiele die wirkungsvollste Methode waren, um ihre Schützlinge zu kontrollieren und deren moralische Anschauung und Verhalten zu formen. Vor allem der Mannschaftssport diente zur Kultivierung von männlicher Physis und ritterlicher Gesinnung. In einem ernsthaften, aber nicht verbissenen Wettstreit vermittelte er Respekt vor Obrigkeit und Gesetz, ohne das Individuum zu brechen. Die breitere Sportkultur strebte nach den hellenischen Tugenden der Ausgewogenheit von Körper und Geist. Vor allem aber konnte man im Sport Ruhm und Ehre erlangen und sich mit Tapferkeit und Mut auszeichnen.
Coubertins Destillat der Sportethik der Privatschulen war geprägt von dieser Generation junger Lehrer und christlicher Wortführer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Charles Kingsley und würde nach und nach eine Kernkomponente seiner synkretischen Vorstellung des Olympismus bilden. Ende der 1880er Jahre griff er es auf, um für eine grundlegende Reform des französischen Erziehungssystems zu werben, und zwar nicht nur für die Eliten, sondern auch für die Massen. Ohne Zweifel war er der Ansicht, dass das englische Modell und dessen Schwerpunkt auf Mannschaftsport und Ballspielen dem reglementierten Turnsport deutscher Prägung vorzuziehen sei. Viele Franzosen hatten auf Preußen geschaut, seine Traditionen nationalistischen Turnsports, Drills und militärischen Erfolgs, und eine Umbildung der französischen Leibeserziehung und der Streitkräfte nach deutschem Vorbild gefordert. Coubertin hingegen argumentierte: »Es sind eher Bürger als Soldaten, die Frankreich braucht. Unsere Erziehung braucht nicht Militarismus, sondern Freiheit.« 9
Coubertin hatte nun seine Aufgabe, aber nun wollte er auch handeln; 1888 half er, das Komitee zur Verbreitung von Leibesübungen im Erziehungswesen zu gründen, dessen Vorsitz der frühere Premierminister und mittlerweile greise republikanische Staatsmann Jules Simon übernahm. Die Organisation war eine Kampagne der Erziehungspolitik, eine Bühne für die Tugenden des Amateursports und ein Verwaltungsapparat, der Turniere für Leichtathletik, Fußball und Rugby veranstaltete. 1890 kam es zum Zusammenschluss mit einem kleineren Mitstreiter, aus dem die USFSA (Union des Sociétés Françaises de Sports Athlétiques) hervorging. Zu anglophil ausgerichtet für extremere nationale Geschmäcker, gründeten Gegner wie der Sozialist und Science-Fiction-Autor Paschal Grousset die Ligue Nationale de l’Éducation Physique und ereiferten sich gegen den Import englischer Spiele und Sitten.
Grousset rief sogar dazu auf, eine nationale französische Version der antiken Olympischen Spiele zu schaffen. Erstaunlicherweise zeigte sich Coubertin, nur drei Jahre bevor er seine eigene Erneuerungsbewegung ins Leben rief, wenig begeistert von dieser Idee, äußerte sich sogar ein wenig verächtlich: »Groussets Liga macht eine Menge Aufhebens. Sie rasselt mit dem Säbel, schwärmt von den Olympischen Spielen und malt sich Zeremonien am Fuße des Eiffelturms aus, wo das Staatsoberhaupt die jungen Athleten mit Lorbeeren kränzt. Und gerade dann, wenn sie über die militärische Verteidigung sprechen, erklären sie, dass sie keinen politischen Einfluss nehmen wollen … Das ist alles ein bisschen viel: Es ist sogar zu viel.« 10Und doch ist es genau das, was Coubertin später selbst erschaffen würde. Die Wiederbelebung der Olympischen Spiele sollte für ihn zum Ziel aller Ziele werden, das zahllose persönliche und politische, sportliche und intellektuelle Fäden in seinem Leben verband.
In seinen eigenen, abenteuerlich unglaubwürdigen Memoiren, veröffentlicht 1908, äußerte Coubertin sich nur sehr vage darüber, wann und wie ihm die Idee zur Wiederbelebung der Olympischen Spiele gekommen war. Seine früheren Zweifel jedenfalls ließ er dezent unter den Tisch fallen. In der Tat dichtete der Baron seinen geistig-seelischen Werdegang in einer Weise um, die ihm den Anstrich eines lebenslangen verträumten Hellenophilen gab. »Wann und wie sich in meinem Geist das Bedürfnis mit der Idee verknüpfte, die Olympischen Spiele wiederaufleben zu lassen, vermag ich nicht zu sagen … ich war vertraut mit dem Begriff. Nichts in der Geschichte des Altertums hatte mich mehr zum Träumer gemacht als Olympia. Diese Stadt des Traums … errichtete ihre Kolonnaden und Säulengänge unablässig in meinem heranwachsenden Geist. Lange bevor ich daran dachte, aus ihren Ruinen den Gedanken der Erneuerung zu ziehen, baute ich sie in meinem Geiste wieder auf, um die Gestalt ihrer Silhouette wiederaufleben zu lassen.« 11
Dank seiner jesuitischen Erziehung war Coubertin gewiss vertraut mit einigen der klassischen Texten über die Spiele, und er wusste sicher um die Erkenntnisse, die die deutschen Ausgrabungen in Olympia zutage gefördert hatten. Jedoch deutet in seinen Aufzeichnungen, Notizen und Bücherregalen wenig darauf hin, dass er ein gesteigertes Interesse an dem Thema gehabt hätte noch dass er einen wesentlichen Zusammenhang zwischen den antiken Spielen und seiner erziehungsreformatorischen Arbeit oder seiner zunehmend internationalistischen Gesinnung hergestellt hätte. Die plausibelste Erklärung für seine Kehrtwende, oder zumindest der Auslöser dafür, seine Meinung zu ändern, war wohl seine Begegnung mit Dr. Brookes bei den Wenlock Olympian Games.
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