1 ...7 8 9 11 12 13 ...34 Anfang 1889 hatte Coubertin mit einem Aufruf in englischen Zeitungen nach Briefpartnern gesucht, die bereit waren, mit ihm über Leibeserziehung zu korrespondieren. Unter denen, die antworteten, war Dr. Penny Brookes, der Coubertin mit einer kontinuierlichen Flut an Briefen, Zeitungsausschnitten und Berichten rund um das Thema Olympia versorgte. Der Baron nahm sie offenbar zur Kenntnis, und noch im gleichen Jahr rühmte er Brookes’ Ideen und Initiativen in einer Rede auf dem Internationalen Kongress für Leibeserziehung – sein Beitrag zur Weltausstellung, die 1889 in Paris stattfand – und zitierte wörtlich aus einer Rede, die jener 1866 beim National Olympian Festival in London gehalten hatte: »Wie könnte man nicht den Worten beipflichten, die ein scharfsinniger Redner bei einem Sportfest äußerte, das vor gut 20 Jahren in Crystal Palace stattfand?« 12
Interessanterweise nahm Coubertin keinen eindeutigen Bezug auf den olympischen Aspekt der Spiele. In seiner späteren Korrespondenz mit Brookes, die sich ausführlich mit den Tugenden und Verheißungen beschäftigte, Leibeserziehung in den nationalen Lehrplan aufzunehmen, und zu der Abmachung führte, den Spielen in Much Wenlock im Oktober 1890 beizuwohnen, kam das Thema der antiken Olympischen Spiele nicht zur Sprache. Am Vorabend seiner Ankunft ging Brookes davon aus, dass der Zwecke der Übung lediglich darin bestehe, »Baron Pierre de Coubertin aufzuklären, der darauf aus ist, seinen Landsleuten den Sport in größerem Maße näherzubringen«.
Die Spiele waren bereits, wie üblich, im Mai ausgetragen worden, also gab es eine Sondervorstellung. Der dargebotene Sport war nichts Weltbewegendes, umso mehr Aufhebens machte Brookes um das sonstige Gepränge. Die Teilnehmer trafen aufwendig kostümiert ein und schritten in einer Prozession durch einen auf einer Bühne errichteten Triumphbogen, auf dem die Worte standen: »Willkommen Baron Pierre de Coubertin und Wohlstand für Frankreich.« Der Baron wurde gebeten, einen Eichenbaum zu pflanzen, und man badete den Setzling in Champagner. Das Feld war mit Bannern geschmückt, auf denen in altgriechischer Sprache die Klassiker zitiert wurden. Die Spiele selbst waren kurz: diverse Leichtathletikwettbewerbe gefolgt von Ringreiten und einer ausgeklügelten pseudomittelalterlichen Preisverleihung, dann weiter mit einem großen Festessen. Brookes ernannte Coubertin zum Ehrenmitglied der Wenlock Olympian Society; Coubertin ernannte Brookes zum Ehrenmitglied der USFSA. Den beiden war auch ein wenig Zeit unter vier Augen vergönnt, die der Doktor dazu nutzte, dem Baron seine Aufzeichnungen, Archive und gesammelte Korrespondenz zum Thema Wiederbelebung der Olympischen Spiele sowie seine persönliche Bibliothek zu zeigen – und, im Zuge dessen, die Geschichte der National Olympian Association, der griechischen Olympien und seinen anschließenden Briefwechsel mit den Griechen.
Etwas scheint klick gemacht zu haben. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich schrieb Coubertin einen Artikel mit dem Titel »Les Jeux Olympiques à Much Wenlock. Une page de l’histoire de l’athlétisme«. »Was sie kennzeichnet, ist der Schleier der Poesie, der sie umhüllt, und der Ruch der Antike, den sie verströmen. Mehr als jeder andere hat Dr. Brookes das geheimnisvollen Wirken verspürt, das die griechische Zivilisation, durch die Zeiten hindurch, noch immer auf die Menschheit ausübt.« 13Coubertin stellte klar: »Sollten die Olympischen Spiele, die das moderne Griechenland nicht zurückbringen konnte, je neu aufleben, gebührt das Verdienst dafür nicht einem Griechen, sondern Dr. Brookes.« So deutlich sollte er das nie wieder sagen.
FÜNF
Es scheint unstrittig, dass sich Coubertin erst in den Monaten nach seinem Besuch in Much Wen-lock zum olympischen Erneuerer entwickelte. Dabei griff er ausgiebig auf Ideen und Experimente seiner Vorgänger zurück, meistens jedoch ohne deren Verdienste zu würdigen. Gleichwohl war Coubertin mehr als ein bloßer Nachahmer. In den 18 Monaten zwischen der Veröffentlichung seines Artikels über Much Wenlock und seiner Rede von 1892 an der Sorbonne, wo er erstmals eine Wiederbelebung der Spiele anregte, schmiedete er eine einzigartige Version der modernen Spiele. Darüber hinaus war er anders als seine Vorgänger in der Lage, eine internationale gesellschaftliche und politische Koalition zu schaffen, die seine Pläne in die Tat umsetzen könnte. Coubertins größter Vorteil war vielleicht seine Fähigkeit, in großem Stil zu denken. In den 1790er Jahren hat-ten die französischen Revolutionäre die neue europäische Republik dazu aufgerufen, sich ihrer Olympiade anzuschließen. In den 1860er Jahren warb die NAO um Bewerbungen ausländischer Athleten, erhielt jedoch keine. Die Much Wenlock Spiele waren hoffnungslos provinziell, Zappas’ Olympien richteten sich an ein ausschließlich griechisches Publikum und waren mit einem griechischen Anliegen verknüpft. Zwar konnten beide von den aufkommenden Sportkulturen und Klubs ihrer Zeit profitieren, es gelang ihnen aber nicht, sich die aristokratischen Netzwerke sport-lichen Prestiges, kulturellen Kapitals und politischen Einflusses zunutze zu machen.
Coubertin hingegen knüpfte seine olympischen Erneuerung an den universellen Ruf nach Internationalismus und stellte sich die Spiele nicht als Neugestaltung eines ländlichen Volksfestes vor, sondern als großes, wenn auch maßvolles urban-kosmopolitisches Spektakel. Außerdem hatte er sowohl die persönlichen Beziehungen als auch die ideologische Anziehungskraft, die Wiederbelebung der Olympischen Spiele an die vornehmen Sportler der industrialisierten Welt zu binden.
Obwohl er sich gegen eine Laufbahn als Diplomat entschieden hatte – eine der wenigen Karrieren, die ihm offenstanden –, war Coubertin aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung und Beziehungen ganz selbstverständlich ein Teil der Welt internationaler Angelegenheiten. Seit der Etablierung der Pentarchie am Ende der napoleonischen Kriege hatten es sich die gekrönten Häupter Europas zunehmend zur Gewohnheit gemacht, Konferenzen untereinander einzuberufen, um sich von Angesicht zu Angesicht zu treffen. 1Da es für dieses semi-offizielle Verfahren internationaler Diplomatie keine verbindlichen Vorgaben gab, war nie ganz klar, wer unter den europäischen Herrschern berechtigt war, eine Konferenz einzuberufen und zu welchem Thema. Im Laufe des 19. Jahrhunderts machten sich auch kleinere Monarchien und untergeordnete Mitglieder der europäischen Aristokratie diese Praxis zu eigen. Dabei wurden alle möglichen Themen diskutiert: vom weltweiten Schutz intellektuellen Eigentums bis hin zum Kriegsvölkerrecht und dem Bau des Suezkanals. Coubertin hatte nicht nur Zugang zu diesen Netzwerken, sondern, dank seiner Reisen und seinem wachsenden Fundus an Briefpartnern, Kontakte zu einigen der wichtigsten Sportverbände, Universitäten und Sportklubs in Europa und Nordamerika.
Wie wir noch sehen werden, war die effektivste Weise, diese Kräfte zu mobilisieren, sie mit der Frage nach dem Amateurismus im Sport und dann der üblichen Aufgabe internationaler Kongresse zu betrauen: in ihrem jeweiligen Fachgebiet international gültige Normen zu diskutieren, anzuregen und wenn möglich festzulegen. Wie aber angesichts der neuen Sprache und Argumente des Barons nach 1892 ersichtlich ist, bildete der Amateurgedanke keinen besonderen Antrieb für ihn, sondern war lediglich Mittel zum Zweck. Viel wichtiger waren die Ideen des Internationalismus, Pazifismus und Friedens unter den Nationen, Ideen, die ihm erstmals an der École Libre begegnet waren und die Bestandteil der aufregenden intellektuellen Szene der Pariser Gesellschaft waren.
Auffallend ist, dass unter den ehrenwerten Befürwortern des Kongresses zur Wiederbelebung der Spiele von 1894 neben einer Reihe kosmopolitischer Monarchen auch sämtliche führenden Figuren der aufkeimenden Friedensbewegung waren, die ihr Zentrum in Paris hatte. 2Diese Welt der internationalen Beziehungen und Konferenzen überschnitt sich mit den wichtigsten Knotenpunkten in den globalen Netzwerken für kulturellen Austausch der Belle Époque – den Weltausstellungen, die 1851 mit der Londoner Great Exhibition ihren Anfang nahmen und mit der Pariser Exposition universelle von 1889, bei der Coubertin gesprochen hatte, einen neuen Höhepunkt an Größe und Einfuss erreichten. Die von Coubertin mitveranstalteten Vorträge und kleinen Darbietungen der schwedischen Heilgymnastik bei der Ausstellung brachten den internationalen Sport ins Umfeld dieser neuen weltumspannenden Spektakel und ihrer grandiosen Interpretationen der Modernität.
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