David Goldblatt
Eine Weltgeschichte
der Olympiade
Aus dem Englischen von Olaf Bentkämper
VERLAG DIE WERKSTATT
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The Games. A Global History of the Olympics bei Macmillan, einem Imprint von Pan Macmillan, zugehörig Macmillan Publishers International Limited.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
Copyright © David Goldblatt 2016
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe:
2018 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.deAlle Rechte vorbehalten. Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medienproduktion GmbH, Göttingen
ISBN 978-3-7307-0402-8
INHALT
Einleitung
Kapitel 1Dieses großartige und heilsame Werk: Die Wiederbelebung der Olympischen Spiele Von der Antike bis Athen 1896
Kapitel 2Menschen, Sportler, Sensationen: Die Olympischen Spiele am Ende der Belle Époque Von Paris 1900 bis Stockholm 1912
Kapitel 3Nicht die Einzigen ihrer Art: Die Olympischen Spiele und ihre Herausforderer in den 1920er Jahren Von Antwerpen 1920 bis Amsterdam 1928
Kapitel 4It’s Showtime! Die Olympischen Spiele als Spektakel Von Lake Placid 1932 bis Berlin 1936
Kapitel 5Klein, aber fein: Die verlorenen Welten der Nachkriegsolympiaden Von St. Moritz 1948 bis Melbourne 1956
Kapitel 6Das Bild bleibt: Inszenierung und Gegeninszenierung bei den Spielen Von Squaw Valley 1960 bis München 1972
Kapitel 7Alles in Auflösung: Bankrott, Boykotte und das Ende des Amateurismus Von Innsbruck 1976 bis Seoul 1988
Kapitel 8Boom! Die Globalisierung der Olympischen Spiele nach dem Ende des Kalten Kriegs Von Albertville 1992 bis Athen 2004
Kapitel 9Auf dem absteigenden Ast: Die Olympischen Spiele in der neuen Weltordnung Von Turin 2006 bis Rio 2016
Schlusswort
Endnoten
Personenregister
Der Autor
EINLEITUNG
O Sport, du Göttergabe, du Lebenselixier!
Der fröhlichen Lichtstrahl wirft in die arbeitsschwere Zeit,
Der du ein Bote bist der längst vergangenen Tage.
Wo die Menschheit lächelte in Jugendlust,
Wo der aufsteigende Sonnengott die Gipfel der Berge rötete
Und scheidend den Hochwald in leuchtende Farben tauchte.
Georges Hohrod und M. Eschbach Gewinner der Goldmedaille, Olympische Kunstwettbewerbe 1912
Baron de Coubertin war schon lange der Auffassung gewesen, dass Sport keineswegs im Gegensatz zu den Künsten stünde, sondern einen eigenständigen und wichtigen Bestandteil des kulturellen Lebens innerhalb der Gesellschaft bildete. Deswegen erschien es ihm, im Unterschied zu vielen seiner sportlich und künstlerisch veranlagten Zeitgenossen, nur folgerichtig, dass im Rahmen der Olympischen Spiele auch künstlerische, literarische und musikalische Wettbewerbe zum Thema Sport ausgerichtet werden sollten. Im Vorfeld der Spiele von 1912 in Stockholm hatte er mehrfach versucht, die schwedischen Gastgeber davon zu überzeugen, eine entsprechende Konkurrenz auf die Beine zu stellen, aber nachdem man sich mit der künstlerischen Gemeinde des Landes beraten und nichts als Unverständnis und Ablehnung geerntet hatte, wurde dem Ersuchen eine höfliche Absage erteilt. Der Baron ließ sich nicht beirren und kündigte ungeachtet dessen an, dass es im Rahmen der Spiele von 1912 künstlerische Wettbewerbe geben werde, und rief dazu auf, Beiträge an seine Adresse zu schicken, wo er, soweit dies zu beurteilen ist, als alleiniger Preisrichter fungierte.
Im Bereich Literatur ging der Preis an Hohrod und Eschbachs »Ode an den Sport«. Sie war so ganz nach dem Geschmack des Barons, der einer recht eigentümlichen Religiosität und überspannten Auffassung der antiken und modernen Sportgeschichte anhing. Und doch traf die Ode in mancherlei Hinsicht den Nagel auf den Kopf. Die antike Welt hatte ihre Spiele, in der modernen Welt hingegen wurde Sport getrieben. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein entwickelte sich in Nordeuropa und den Vereinigten Staaten ein Großteil der Sportarten in der Form, wie wir sie heute kennen. Sie griffen zurück auf ältere Spiele und neuere Experimente, oder sie wurden, wie z. B. Handball und Basketball, ganz neu erfunden. Anders als die meisten der vormodernen Disziplinen waren sie losgelöst von religiösen oder lokalen Kalendern, Ritualen und Zwecken und erlangten stattdessen ihre eigene innere Bedeutung und Freude. Entgegen dem engstirnigen Provinzialismus der vormodernen Welt erhielten diese Sportarten festgeschriebene Regeln, die es ihnen ermöglichten, unter der Obhut moderner Verwaltungsapparate, nationale und globale Verbreitung zu finden. Dies alles bedeutete, dass zu eben dem Zeitpunkt, da das Aufkommen des Industriekapitalismus und des Militarismus die Welt zu einem raueren und unwirtlicheren Ort machte, es gleichzeitig eine Alternative beförderte: das organisierte Spiel des modernen Sports.
Hohrod und Eschbach waren nicht nur die Schmiede weitschweifiger Zeilen, sondern auch die Namen zweier Dörfer im Elsass nahe des Geburtsorts von Coubertins Frau, womit klar sein sollte, wessen nur nachlässig verschleiertes Pseudonym sie waren. Da er einen eigenen Wettbewerb ins Leben rief, für den er einen eigenen Beitrag einreichte, den er dann kurzerhand zum Sieger erkor, dürfen wir wohl davon ausgehen, dass er von den Zeilen recht angetan war, gleichwohl man ein Jahrhundert später festhalten muss, dass sie nicht besonders gut gealtert sind. Das Gedicht, in französischer und deutscher Sprache vorgelegt, weist zwar gewisse Spuren von Rhythmus, Form und Versmaß auf, ist aber mit der schwerfälligen Schwülstigkeit einer Schulpredigt aufgeladen und angesichts des frömmelnden Tonfalls vielleicht auch genau diesem Genre zuzuordnen. Im Wesentlichen ist es nichts weiter als eine unerträglich schlechte Exegese über das Leitbild des vornehmen Amateursports, das im 19. Jahrhundert in den elitären Militär- und Bildungseinrichtungen des Westens Verbreitung fand. Dort diente der Sport der Bildung des Charakters und des moralischen Rüstzeugs, die erforderlich waren, um über Imperien und das gemeine Volk zu herrschen. Diese und nur diese Sorte Athleten und diese Art von Sport waren es, die die Gipfel der Modernität röteten.
Allzu viel lässt sich von Coubertins ideologischem Vermächtnis somit nicht mehr in die heutige Zeit hinüberretten, weder aus seinem Gedicht noch aus der Welt des vornehmen Sports, der es entsprang. Der Amateurismus und seine elitären Codes sind von Olympia längst aufgegeben worden, und Coubertins tief empfundener Glaube, dass die Spiele in erster Linie eine spirituelle Angelegenheit und eine Form moderner Religion seien, geriet still und heimlich in Vergessenheit, als sich die olympische Bewegung vom Gentleman’s Club und neo-hellenischen Athletenkult zum global agierenden Verwaltungsapparat, der eine säkulare, kommerzialisierte Feier der gesamten Menschheit ausrichtet, wandelte. Für mein Empfinden gibt es in der »Ode an den Sport« nur zwei Strophen, die uns auch heute noch etwas zu sagen haben. Zunächst preist der Baron in einer für die damalige Zeit ziemlich untypischen Art und Weise das Vermögen des Sports, soziale Ungleichheiten zu überwinden und individuelle Begabungen und Fähigkeiten in einer ansonsten ungerechten Welt sichtbar zu machen:
Читать дальше