David Signer
Die Ökonomie der Hexerei
oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
EDITION TRICKSTER IM PETER HAMMER VERLAG
EINLEITUNG
Worum es geht
Seltsame Zugänge
Was steckt dahinter? Die Frage der Hexerei
EXPEDITIONEN MIT ZAUBERERN
Eine erste, persönliche Annäherung
Die Geisterpriesterin
Der Féticheur
Verwirrung als Erkenntnismittel
Übertretungen des Bischofs – Stärke
Übertretungen des Agronomiestudenten – Sex
Übertretungen des Schweizers – Sparen
Übertretungen des Ego – Distanz
In Coulibalys WeltDer Féticheur aus Mali
Der Mann, der mit bloßen Worten ein Huhn töten konnte
Coulibaly sagt wahr
Potenz und Grenzen
Eine Zeichnung, die dich reich macht
Im Netz. Die Textur des Analphabeten
Immer wieder: Kauris, Geister, Opfer und Gris-Gris
Das Geheimnis des Fetischs
Bei der Polizei und am Wasser
Die Reise nach Tiengolo
In den Dörfern Bélédougous: Zwillinge, Schlangen und der blinde Peul
Größenwahn und Liebe
In den Brei schreiben
Träume in Mopti
Warum muss man bis zu den Dogon reisen, um zu erfahren, wie viele Kinder man hat?
Rückkehr an die blaue Lagune
Rechnungen begleichen
Baba, die Familie und das WortDie Griots aus Burkina Faso
Jäger, Schmiede und Griots
Als ob die Zeit stehen bliebe
Die Reise nach Koumbara (Baba, Bobo, Bwaba, Bubu)
Auf dem Dorf: Begrüßung, Schenkung, Segnung (oder Verhexung)
Ist der Vater immer noch nicht zufrieden?
Big Brother is watching you
Clémentines GeisterTrance und Besessenheit in Abidjan
Ein aufmüpfiger Fahrer und eine rachsüchtige Schlange
Vielschichtiger Lebenslauf
Eine Beziehung etablieren
Die Stimme der Geister
Abermals: Wie sie Féticheuse wurde
Liebesübersetzer, Bluttrommel, Gris-Gris-Kraft
Eine afrikanische Kassandra
Eine Waschung mit Rum und Hölzern
Das Opfer: Hühnerblut, Rum, Kaolin und Hirse
Die jährliche Opferzeremonie für die Geister
Die Geister um Erlaubnis für Filmaufnahmen fragen
Die Heilzeremonie in Bonoua
Die Lackmusprobe der Trance
Die Ankündigung einer zweiten Initiation
Eine geisterhafte Besucherin von weit her
Die neu geweihte Féticheuse zeigt sich
Die jährliche Opferzeremonie auf dem Dorf
Wahn-, Warn- und WahrträumeVorahnungen und Wunder in Guinea und Senegal
Kribi und verkohltes Küken gegen Aids
Ein neuer Fetisch
Ein erster Eindruck von Guinea
Falsche Frauen und zwei weise Marabouts
Die Malinké-Wahrsager: Tote Frau, erfreulicher Brief
Wenn die Féticheure ihr Netz auswerfen
Die Vorahnung des ausgehobenen Loches
Hatte Coulibaly von Siguiri und dem Alten auch bloß geträumt?
Sand in die Augen gestreut
Ein Fetisch, der (nicht) spricht
Wasser und Feuer
Coulibaly auf der Fährte eines unheimlichen Großvaters
Der Elefantenfetisch gibt etwas von sich
Geht der Tod der Großmutter auch auf das Konto des Großvaters?
Aufstieg auf unbestimmte Zeit verschoben
Die Traumungeheuer sind in Wirklichkeit die Hexer
Der Tod des Onkels
Magischer Geleitschutz
Regen rufen und Kopf abbeißen
Odysseus, Eulenspiegel und Baron von Münchhausen in Afrika
Die Rivalen pulverisiert
„Es soll dir nicht besser ergehen als mir“
Ist Geld etwas Reales? (Die Geldverdoppler-Marabouts)
Geld als (uneinnehmbares) Luftschloss
Das Dosenwunder von Ferkessédougou
Initiation in die Kunst des Heilens und Krankmachens
Ich soll lernen, Hexen und die Zukunft zu sehen
Eine Vorahnung von Bösem
Die Welt der Kauris
Der Heiler und das Unheil
Eine Konsultation in Abwesenheit des Betroffenen
Lesen im Sand
Ein Versuch, die Welt zu ordnen
Das zufällige Reale strukturieren
Wie die Zeichen heilen
Coulibaly und Prof. Gueye im Vergleich
Tropischer Hyperhumanismus
Die persönliche Parksäule
Des Menschen Hörigkeit
Nanette oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt
Die hinterhältige Stiefmutter
Humanismus als Humus für Hexerei
Steckt hinter dem Herzinfarkt die neidische Tante?
Hänsel und Gretel bei den Mauren
Das Rätsel des Sechsten Sinns
„SIE LASSEN DICH NICHT WACHSEN“
Die Ökonomie der Hexerei
Der tödliche Neid
Die Hölle, das sind die andern – aber ohne sie wäre man nichts
Den Bruder oder gar den Vater überholen
Die Entwertung der greifbaren Realität
Hexerei versus Entwicklung („Arbeiten bringt nichts“)
Der afrikanische Autoritarismus
Der freigebige Chef
Magischer Schutz vor Hexerei
Opfer und Gewalt
Allgegenwart der Opferlogik
Neid, Sündenbock, Opfer
Die unsichtbare Gewalt
Die Hexerei als Teil der Kultur
Die Unantastbarkeit des Gegebenen
Bitte – Drohung – Hexerei (Eingeforderte Gaben)
Kredit und Schulden
Korruption und Nepotismus
Vermeidung von offenen Konflikten
Selbstlosigkeit
Liebe und Sexualität
Geiz ist schlimmer als Verschwendung
Eine zirkuläre und hierarchische Zeitauffassung
Die Hexerei als Fluchtpunkt
Literatur
Die afrikanischen Heiler waren für mich geradezu der Inbegriff des Geheimnisvollen und Fremden, und damit dürfte ich in unserer Kultur kaum alleine dastehen.
Schon als Kind faszinierten mich Geschichten über Zauberer, Medizinmänner, Schamanen, Geisterbeschwörer und Wundertätige. Als Jugendlicher sah ich „Der Exorzist“, mit der Passage, wo nach all den fehl geschlagenen Versuchen, das besessene Mädchen zu beruhigen, ein Priester geholt wird, von dem man munkelt, er hätte viele Jahre im Busch verbracht, wo er von den Afrikanern in ihre geheimen Riten eingeweiht worden sei. Später hielt ich mich ein Jahr in Ostafrika auf, kam jedoch nie wirklich in die Nähe eines nganga oder witchdoctor, wie sie dort genannt werden.
Als ich 1994 dann zum ersten Mal in der Elfenbeinküste zu einer Féticheuse gebracht wurde, ging für mich damit ein langer Traum in Erfüllung, und erst recht, als ich später Coulibaly, einen Heiler aus Mali, auch persönlich kennen lernte. Endlich konnte ich in diesen so lange verschlossenen Raum eintreten und mich in dieses Andere versenken. Während dreier Jahre hatte ich Gelegenheit, mich mit der Gedankenwelt, dem Leben, den Methoden und der Umgebung der Heiler und Heilerinnen in Westafrika vertraut zu machen. Und obwohl mir diese Welt heute in gewisser Weise vertrauter ist als beispielsweise die Schweizer Bankenwelt (die Struktur des Sandorakels ist mir klarer als jene der Börse), ist sie in anderer Hinsicht auch immer rätselhafter geworden.
Denn im Prinzip hat ein afrikanischer Heiler denkbar wenig mit einem Arzt in unserem Sinne zu tun. Wenn man sich bloß auf die traditionellen Pflanzenmedizinen konzentriert, die verschrieben werden, dann hat man von der Welt, die den Patienten und den Heiler verbindet, wenig wahrgenommen und verstanden. (Und deshalb spreche ich im Folgenden auch nicht vom Heiler, sondern vom Féticheur, um diese Andersheit sogleich zu signalisieren.) Für uns ist ein Arzt ja eine Art Feinmechaniker, der den Körper gewissermaßen als eine weiche Maschine auffasst, die irgendwo eine Störung aufweist, die aufgefunden und repariert werden muss. Sucht in Afrika jemand aufgrund von Problemen einen Spezialisten auf, so wird dieser (abgesehen von den bloßen Herbristen) die Konsultation nicht etwa durch eine Befragung und Untersuchung des Patienten beginnen, sondern im Allgemeinen gleich zum Orakel übergehen, auf dessen Offenbarungen er dann sowohl die Diagnose wie die Therapie stützen wird. Das kann in Form von Kaurischnecken geschehen, die geworfen werden, wobei ihre Konstellation interpretiert wird. Vielleicht zeichnet der Féticheur auch Muster in den Sand, die dann verbunden und „gelesen“ werden. Handelt es sich um einen islamischen Marabout, kennt er vielleicht Techniken, die Steinchen seiner Gebetskette abzuzählen, um die resultierenden Zahlen sodann in Aussagen zu übersetzen. Oder handelt es sich um eine Geisterpriesterin, wird sie von diesen besessen und gibt dann in Trance deren Aussagen wieder. Aber immer handelt es sich um Methoden der Wahrheitsfindung, die wir kaum als rational, empirisch oder überprüfbar betrachten.
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