Die Spiele lockten 30.000 Zuschauer an und wurden von den meisten Griechen als voller Erfolg gewertet. Manche aber, wie Philip Ioannou, ein aristokratischer Klassizist und Mitglied des Organisationskomitees, waren bestürzt über die Teilnahme von Athleten aus der Arbeiterklasse – wie Troungas, der Mastkletterchampion und Steinmetz – und verzagten angesichts des Fehlens »wohlerzogener Jugend«. Bei den nächsten Spielen 1875 sorgte der Organisator und Sportlehrer Ioannis Fokianos dafür, dass nur Athleten von »höchstem gesellschaftlichem Stande« mitmachen durften. Potenzielle Kandidaten mussten sich über ihre Universitäten bewerben und dann zwei Monate lang Fokianos’ eigene Turnhalle besuchen. Somit war gewährleistet, dass das Teilnehmerfeld gespickt war mit »jungen Männern aus kultivierten Kreisen … statt den Burschen aus der Arbeiterschicht, die zu den ersten beiden Olympien gekommen waren«. Obwohl die Presse frohlockte, dass sie »viel anständiger« sein würden, gerieten die Spiele zum Desaster. Das Stadion war für die Wettbewerbe völlig ungeeignet, die Zuschauer mussten Sträucher und Steine entfernen, um einen Sitzplatz zu finden, und die angesichts der unseligen Organisation der Veranstaltung ohnehin gereizte Stimmung verschlechterte sich noch durch die langatmigen und unverständlichen Reden von Fokianos.
Wenig überraschend hielt sich das Komitee der Olympien in den folgenden Jahren bedeckt und investierte seine Zeit und einen Großteil von Zappas’ Nachlass in den Bau eines prachtvollen, seit Langem in Aussicht gestellten Ausstellungsgebäudes: das tempelartige, neoklassizistische Zappeion, das 1888 vollendet wurde. Sie regten eine vierte Auflage der Olympien an, aber so richtig mit dem Herzen bei der Sache waren sie nicht. Der Erneuerungsgeist lebte fort in Gestalt der neu gebildeten Panhellenischen Gymnastischen Gesellschaft – dem Zentrum des aristokratischen Sports in Athen –, die 1891 und 1893 eigene kleine panhellenische Spiele abhielt und sowohl König Georg als auch Kronprinz Konstantin als Zuschauer und Schirmherren gewann. 1890 erließ Konstantin eine königliche Verordnung, derzufolge im Jahr 1892 erneut ein vierjähriger Zyklus griechischer Olympien aufgenommen würde. Aber für die Wiederbelebung der Spiele sollten die griechische Krone und ihre Verbündeten auf Unterstützung von außerhalb angewiesen sein.
VIER
Pierre de Coubertins Körper ruht in Lausanne, sein Herz liegt in Olympia begraben, aber er kam in Frankreich zur Welt und wurde maßgeblich geprägt von den Mühen der Dritten Republik. Geboren 1863 in Paris als Baron Charles Pierre Fredy de Coubertin, war er das vierte Kind einer alteingesessenen französischen Adelsfamilie. Coubertin empfing seine Erstkommunion 1870, dem Jahr der Schlacht von Sedan, in der die Preußen Kaiser Napoleon III. gefangen nahmen und die französischen Truppen in der Frühphase des kurzlebigen Deutsch-Französischen Krieges in die Flucht schlugen. Nach dem Fall von Paris 1871 setzten die siegreichen Armeen des inzwischen vereinten Deutschen Reichs einen Friedensvertrag zu ihren Bedingungen durch, zogen wieder ab und nahmen Elsass-Lothringen sowie die letzten Reste französischen Nationalstolzes mit sich. Mit dem Kaiser im Exil und der alten Garde in Verruf, wurde die Dritte Französische Republik ausgerufen.
Coubertins Eltern hatten für ihren Sohn eine Laufbahn als Priester vorgesehen und schickten ihn ab 1874 auf die Jesuitenschule Saint Ignace. Das stramme Curriculum machte nur wenige Zugeständnisse an das 19. Jahrhundert und konzentrierte sich auf klösterliches Ritual und fromme Ergebenheit, intensive Studien des Griechischen und Lateinischen und Sonderunterricht in Rhetorik. »Vom Lateinischen kam man zu Jura; von der Rhetorik zum Salongespräch, zum Redenhalten im Generalrat und zum politischen Leben.« 1Dazu kam, dass unter den Schülern eine Atmosphäre geschaffen wurde, die von Konkurrenzdenken und Rivalität geprägt war. Noten wurden veröffentlicht und verglichen, Preise für die Besten ausgelobt und – ganz im Sinne der klassischen Ausgewogenheit von Körper und Geist – Fechten, Reiten, Boxen und Rudern gefördert, an denen sich auch Coubertin eifrig beteiligte.
So drakonisch die jesuitische Erziehung auch sein mochte, hatte sie auf die Persönlichkeitsbildung ihrer Zöglinge längst keinen so großen Einfluss wie die ökonomischen, gesellschaftlichen und technologischen Umwälzungen der Dritten Republik. Paris war ein gewaltiger kosmopolitischer Schmelztiegel der Belle Époque, der wichtigste Knotenpunkt der europäischen und globalen Netzwerke von Kunst, Philosophie, Literatur, Musik und Design und die Heimat einer ganzen Reihe großer Messen und Weltausstellungen. Als Coubertin die Schule verließ, hatte der nach außen hin angepasste Jüngling längst gebrochen mit vielen Ansichten seiner Eltern und der Mehrheit seiner gesellschaftlichen Schicht, lehnte eine Karriere als Priester ab und war zu un rallié geworden – einem aristokratischen Verfechter der Republik. Coubertin schrieb sich an der École Libre ein, einer Eliteschule der neuen Sozial- und Verwaltungswissenschaften und Sammelbecken für Internationalisten, Pazifisten und Progressive aller Couleur, wo er eine Reihe von Fächern belegte, die ihm gerade zusagten. Es herrschte eine intellektuelle, von Experimentierfreude und Aufbruch geprägte Atmosphäre, die ganz nach seinem Geschmack war. Aber so nützlich das ganze Studieren auch sein mochte, sehnte sich Coubertin offenbar nach etwas, das ihm als Aristokraten und Mann mit einem gewissen Ansehen in der Welt eher entsprach.
Den vielleicht besten Einblick in Coubertins Befindlichkeit in den frühen 1880er Jahren erhält man in seinem Roman d’un rallié , ein sehr dünn verschleiert semi-autobiografischer Roman, in dem ein pittoresker Reisebericht und eine unerträglich süßliche Liebesgeschichte den Rahmen bilden für Coubertins Memoiren und gesellschaftliche und moralische Ansichten. 2Die zentrale Figur, Étienne, ist ein junger Aristokrat, der sich schwer damit tut, seinen Platz und seine Aufgabe in der Welt zu finden: »Étienne war es überdrüssig, zum Handeln gestoßen zu werden, aber nicht imstande zu sein zu handeln. Das Handeln, er sah es überall, in den unterschiedlichsten und reizvollsten Formen. Wonach er unterbewusst in seinen privaten Studien suchte, waren Motive zum Handeln.« 3
Den Großteil der 1880er Jahre verbrachte Coubertin auf der Suche nach einer Rolle in der Welt, aber auch nach einer höheren Bestimmung. Selbststudium war Teil der Lösung, aber der Schlüssel war für Coubertin das Reisen – Privileg jedes Aristokraten mit akademischen Ansprüchen. Es waren seine Aufenthalte in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, die es ihm ermöglichten, seine Interessen für Sport, Bildungsreform und nationale Entwicklung zu fokussieren.
Coubertin stand in einer langen Reihe französischer Reisender und Autoren, die Britannien besucht hatten. Er war sowohl anglophil als auch anglophob, ein Zwiespalt, der sich oft in der Einstellung des Autors zur Aristokratie der Nation äußerte: War sie eine Bastion des Monarchismus und würdiger Traditionen oder immer mehr ein Anachronismus? Coubertin war weder Monarchist noch wollte er zum Anachronismus werden, wie er verächtlich einen Teil seiner Klasse beschrieb, »gefangen in den Ruinen einer toten Vergangenheit«. Aber ihm stand noch eine alternative Meinung zur Verfügung. Einer der meistgelesenen Reiseberichte seiner Zeit, mit dem auch Coubertin sehr vertraut war, war Hippolyte Taines Aufzeichnungen über England . 4In seiner Darstellung der britischen Aristokratie befand er, dass »die Adligen … als Bürger die aufgeklärtesten, unabhängigsten und nützlichsten der ganzen Nation« seien.
Was machte sie dazu? 1883 bereiste Coubertin die Bildungsinstitutionen Oxford, Cam-bridge, Eton, Harrow und Rugby und bis 1887 noch Christ’s Hospital, Charterhouse, Marlborough, Wellington, Westminster und Winchester. Coubertins wichtigster literarischer Leitfaden dabei war eine englischsprachige Ausgabe von Thomas Hughes’ Tom Browns Schuljahre. Nach eigenem Bekunden hatte er sie »auf all meinen Reisen durch die Privatschulen in England dabei gehabt, um sie wieder lebendig werden zu lassen und so besser verstehen zu können«. 5Tatsächlich sind seine Aufenthalte in England und das Buch, das 1888 folgte, L’éducation en Angleterre , eher als eine herrliche Bestätigung seiner eigenen Lektüre von Tom Brown zu verstehen als eine kritische Auseinandersetzung mit dem, was er zu sehen bekam.
Читать дальше