Die Schwimmwettbewerbe, im schmutzigen Wasser der Seine ausgetragen, muteten fast kurios an und umfassten u. a. ein Hindernisrennen, bei dem die Teilnehmer einen Mast erklimmen, unter einem Bug herschwimmen und dann über einen zweiten klettern mussten. Was das Croquet betraf, so war im offiziellen Bericht zu lesen: »M. André Després, Zivilbeamter von Profession und Gesetzgeber des Croquet, ließ dem Turnier die verständigste und hingebungsvollste Sorgfalt angedeihen. Baron Gourgaud stellte, weder Kosten noch Mühen scheuend, einen eigens für diesen Anlass angelegten Sandplatz in einem hübschen Winkel des Cercle de Bois de Boulogne bereit.« Die Mühe hatte sich kaum gelohnt. »Zuschauer kamen keineswegs zahlreich, wenngleich ich einen englischen Liebhaber des Spiels erwähnen muss, der die Reise von Nizza nach Paris angetreten war. … Sofern ich mich aber nicht sehr täusche, war dieser Gentleman der einzige zahlende Zuschauer.« 3
Trotzdem war nicht jeder so enttäuscht wie Coubertin. Die beliebte Sportzeitung L’Auto-Vélo verstieg sich gar zu der Behauptung, dass »seit den Zeiten, als Olympische Spiele alle vier Jahre in Griechenland und der gesamten antiken Welt extreme Emotionen weckten, dem Sport nicht mehr solche Ehre zuteil geworden war wie in diesem Jahr, nie hat er eine solche Menge versammelt. … Der Sport ist gewiss zu einer neuen Religion geworden.« 4
Vier Jahre später zog die Show nach Westen und wurde sogar noch größer: Die Louisiana Purchase Centennial Exposition von 1904 war eine Ausstellung von gewaltigen Ausmaßen. Die Anlage wurde im gleichen provisorischen Beaux-Arts-Stil wie bei der Chicagoer Weltausstellung von 1893 errichtet, war aber zweimal so groß und umfasste 1.500 Gebäude, 80 Kilometer Fußwege sowie Pavillons aus 62 Nationen und 43 der damals 45 Staaten der USA. In den Werbebroschüren wurde nicht nur den Investoren, die fast 20 Millionen Dollar bereitgestellt hatten, ein schöner Profit versprochen, sondern auch die Ausrichtung der inzwischen obligatorischen »Ausstellung des menschlichen Fortschritts … der neuesten und edelsten Errungenschaften, seiner Triumphe in Fertigkeit und Wissenschaft, seiner bewährtesten Lösungen gesellschaftlicher Probleme«. 5
Das Sportprogramm dauerte mehr als sechs Monate, von Mai bis November. Es wurde von James Sullivan organisiert, der außerdem Leiter der Abteilung für Körperkultur und Präsident der American Athletic Union war. Das Programm veranschaulichte die amerikanische Philosophie, nach der Sport nicht nur ein Zeitvertreib für den Gentleman war, sondern ein Teil dessen, was Präsident Theodore Roosevelt »the strenuous life« genannt hatte, das anstrengende, harte Leben. Nun, da der Wilde Westen erschlossen war, wo würde die kommende Generation die vielen Tugenden lernen und die physische Kraft erlangen, die die Nation erschaffen hatten? Die Antwort lautete: im Sport, in der Liebe zur freien Natur, in der Pfadfinderei und körperlichen Betätigung, nicht nur für die Elite, sondern für die ganze Nation. Unter Einbeziehung der neuesten wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse und deren praktischer Umsetzung in modernen Trainingsformen und anderen Anwendungen könnte Amerika eine Nation gesunder Sportsmänner hervorbringen.
Sämtliche dieser Aspekte waren – sehr zu Coubertins Leidwesen – in Sullivans Sportprogramm berücksichtigt. Es umfasste Schülermeisterschaften des Staates Missouri, Basketballund Baseballturniere für College-Mannschaften, nationale Leichtathletikmeisterschaften des YMCA, dem gälischen Sport gewidmete Tage sowie Vorführungen in Gymnastik und Turnen, außerdem Golf, Bogenschießen, Croquet, Schwimmen, Lacrosse und Fechten.
Die eigentlichen Olympischen Spiele im Sinne des IOC fanden größtenteils von Ende August bis Anfang September statt, allerdings war außer für die Veranstalter nicht klar ersichtlich, dass diese Wettbewerbe einen anderen Stellenwert hatten. Fast alle Konkurrenzen wurden im kleinen und schmucklosen Francis-Field-Stadion und der zugehörigen Turnhalle ausgetragen, die zum Campus der University of Washington gehörten und in einer Ecke des Messegeländes hinter dem ungemein beliebten Fluggelände versteckt lagen. Für die Wasserwettbewerbe musste man sich mit dem künstlichen See neben dem Palace of Agriculture begnügen.
Die Veranstaltung begann mit einer kaum als solche zu bezeichnenden Eröffnungsfeier beim Interschultreffen des Staates Missouri im Mai. Der Vorsitzende des Organisationskomitees der Ausstellung, David Francis, und Außenminister John Milton Hay schritten vom Feld hinauf zu ihrer Loge auf der Haupttribüne, der »Star-Spangled Banner« wurde gespielt, und die Wettbewerbe begannen. Viel prächtiger ging es auch beim Beginn der eigentlichen Olympischen Spiele im August nicht zu. Bei diesem Anlass schritten David Francis und James Sullivan flüchtig eine Doppelreihe von Athleten ab, bevor die Kapelle zu spielen begann, was für alle das Zeichen war, sich zu verteilen und aufzuwärmen.
Nur 687 Athleten kamen nach St. Louis, davon 526 Amerikaner und 56 Kanadier. Unter den vielleicht hundert Sportlern aus der übrigen Welt waren kleine Aufgebote aus dem Britischen Empire, Kuba, Deutschland, Österreich, Griechenland, Ungarn und der Schweiz, aber keine Franzosen, Italiener oder Skandinavier, ganz zu schweigen von Asiaten oder Afrikanern. So überrascht es kaum, dass die USA die erfolgreichste Mannschaft stellten, mit 70 von 94 Goldmedaillen. In der Leichtathletik gewannen sie 21 von 22 Entscheidungen und dazu 42 der 44 zweiten und dritten Plätze. 6Boxen, Tauziehen, Radfahren, Tennis und Roque (ein kurzlebiger amerikanischer Spleen für Croquet auf Beton) machten die Amerikaner unter sich aus. Fußball und Lacrosse waren Weltmeisterschaften mit rein nordamerikanischer Beteiligung, ausgetragen zwischen ortsansässigen Sportklubs und kanadischen Teams.
Amerikaner und Deutsche lieferten sich einige heftige Auseinandersetzungen. Beim Wasserball erachteten die Amerikaner einen aufgeblasenen Volleyball als ein adäquates Spielgerät, und ein Tor wurde erzielt, indem man den Ball ins Netz hielt, statt ihn zu werfen. Die Deutschen sprachen von »Wasserball für Weichlinge« und weigerten sich anzutreten. Beim Wasserspringen brachten sie ihr eigenes Brett mit spezieller Kokosnussauflage mit und bestanden darauf, dass die Punktevergabe nur auf Grundlage akrobatischer Bewegungen erfolgen solle und nicht etwa danach, wie wenig Wasser beim Eintauchen verspritzt wurde. Die Amerikaner waren anderer Meinung. Alfred Braunschweiger weigerte sich daher, zum Stechen um die Bronzemedaille gegen einen Amerikaner anzutreten, den er seiner Meinung nach längst bezwungen hatte. Der deutsche Delegationsleiter in St. Louis, Dr. Theodor Lewald, später Mitglied des IOC, hatte einen Bronzepokal für den siegreichen Wasserspringer gestiftet, war aber so empört über das Ergebnis, dass er sich weigerte, ihn zu verleihen. Abseits solcher Streitereien verlegte sich die amerikanische Presse darauf, den Wettbewerb zum nationalen Duell zwischen dem alten Ostküsten-Establishment und den neuen Universitäten und Athleten der Westküste umzudeuten.
Die Zuschauerzahlen bei fast allen Wettbewerben waren mager, die nationale Berichterstattung in der Presse war schlecht, die internationale so gut wie nicht vorhanden. Mehr Aufmerksamkeit als die offiziellen, von der IOC gutgeheißenen olympischen Bewerbe erregte damals das Sportprogramm im Rahmen des von der Abteilung für Anthropologie errichteten Modells einer Indianerschule. Dieses Modell sollte eine bereinigte Version der traditionellen Lebensweise vorführen und zeigen, wie wirkungsvoll Erziehung als Instrument der Anpassung und Kontrolle war. 7An der Indianerschule maßen sich Studenten im Boxen, Baseball und der Leichtathletik und trugen, als Teil des übergeordneten Sportprogramms, das erste College-Football-Match zwischen rein indigenen Mannschaften aus. Dabei standen sich vor ausverkauftem Haus mit 12.000 Zuschauern – mehr als bei jedem anderen olympischen Wettbewerb in jenem Jahr – zwei Mannschaften der Indianerschulen von Carlisle und Haskill gegenüber. Am bemerkenswertesten aber, und das Element der Spiele von 1904, das noch am längsten nachklang, waren die sportlichen Wettbewerbe im Rahmen der sogenannten »Anthropologischen Tage«. 8
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