Milan klammerte sich an die Vorbereitungen dieses Unternehmens mit verbissener Leidenschaft, so wie er sich in die schwierigsten Rollen stürzte. Während er zur Täuschung der Umgebung sich von Kollegen die Adressen von Privatzimmern in Bulgarien besorgte, dorthin schrieb und sogar eine Anzahlung schickte, büffelte er Tag und Nacht Englisch mit einem Walkman, der ihm die Lektionen ins Ohr trichterte. Ab und zu wechselte er die Kassetten, um Neugierige mit klassischer Musik irrezuführen. Er ließ im Kino keinen amerikanischen oder englischen Film aus, studierte die Technik berühmter Kollegen, deren Duktus und Gestus, wie in früheren Zeiten hielt er dabei Dora im Arm, drückte sie bei eindrucksvollen Szenen an sich und flüsterte dann beschwörend.
«Und doch sitze ich da nicht auf der Ersatzbank.»
Anders als bei den Theaterproben, wenn er sich ihr durch die immer näher kommenden Premieren mehr und mehr entfremdete und fast unzurechnungsfähig wurde, erlebte Dora diesmal, wie er sich beruhigt und zu ihr zurückkehrt, wie er wieder zu einem Ratgeber wird, zum Partner und Freund, zur Stütze und Liebe.
Darum erhob sie keinen Einwand, darum belästigte sie ihn mit keiner ihrer Sorgen und weiblichen Ängste. Sie dachte darüber nach, wie man mit drei Koffern Sommersachen möglicherweise auch durch den Winter kommen könnte, sie lernte zu Englisch auch noch Deutsch, überschüttete das Kind mit übermäßiger Zuneigung und versuchte, die Angst zu unterdrücken, ohne ein Abschiedswort, das sie nicht riskieren durfte, ihre Mutter bald verlassen zu müssen.
Um dies zu bewältigen, nahm sie all ihr Vertrauen zusammen und setzte es auf ihn.
So sah sie nun sein Profil in der matten Spiegelung der Instrumente im Armaturenbrett, der Wagen entführte sie vom Unerträglichen ins Ungewisse, sie hörte einer leichten Vormitternachtsmusik zu, wie sie mit einem Rauschen der Ferne nach wie vor von Prag ausgestrahlt wurde, und wünschte sich, dieser Augenblick möge nie enden. Seine Augen, durch Hunderte von Kilometern ermüdet, haben den Ausdruck ständiger Wachsamkeit verloren und sahen verwundbar aus... wie damals im Hamlet, erinnerte sie sich. Als hätte alle Trauer der Jahre sie plötzlich zugeschüttet, verspürte sie eisiges Erschrecken. Was erwartet uns? Da trat er heftig auf die Bremse.
«O nein...» sagte er, statt sich zu entschuldigen, fast flüsternd.
Dem Škoda saß auf der engen südungarischen Straße, die sich da vor ihnen nach Westjugoslawien bog, eine riesige Eule gegenüber. Unbeweglich, mit spähenden Augenschlitzen, die direkt auf sie gerichtet waren. Irgendwie sah sie wie ein Polizist aus, der gerade den Verkehr stoppt.
«Was ist das...?» sagte der Schauspieler, verstummte aber gleich.
Ein paar Meter hinter dem Vogel begann eine Herde Wild die Straße zu überqueren. Zwischen den Ricken stolperte ein Zug Kitzen auf Wakkelbeinchen dahin.
«Petřík, schläfst du?»
Das Kind hat sich sofort gemeldet.
«Nein, Papi.»
«Siehst du es?»
«Ja...»
«Schau doch, du siehst das vielleicht nie wieder! Ein wahrhaftiger Sommernachtstraum!»
«Ja, Papi...»
Der immer wie verscheucht klingende Ton des Sohnes, der ihn so oft reizte, denn er sehnte sich nach einem Kumpel, wie er selbst es war, hat ihn in diesem Augenblick seltsamerweise berührt. Es wurde ihm klar, daß er sein Kind aus vertrauter Umgebung ins Unbekannte fährt, von dem auch er nur eine papierene Vorstellung hat. Das ferne Prag hat ihm zum letztenmal geholfen, als es jetzt die Nationalhymne brachte. Er schaltete ab, ohne einen giftigen Kommentar, den er schon auf der Zunge hatte, er spürte, daß das seltsame Genre dieser Szene keine Plumpheit verträgt. Dem Jungen wollte er jedoch eine Freude machen.
«Weißt du, was ich dir versprechen kann, Petřík?»
«Nein...»
«Die längsten Ferien von allen deinen Kameraden. Freust du dich?»
«Ja, Papi...»
Als letztes erschien auf der Straße ein majestätischer Hirsch, vielleicht ein Sechzehnender. Er verharrte in der Mitte der Fahrbahn und schüttelte herausfordernd den Kopf gegen die Scheinwerfer. Der Fahrer hupte kurz. Daraufhin streckte sich das Tier, und aus seiner Kehle drang ein Ton, der sich von der Hupe wie die Posaune von der Klarinette unterschied. Die Eule flatterte unter schwerem Flügelschlag in die Dunkelheit. Der Hirsch gab ihnen nur noch einen abschätzigen Blick und verschwand mit einem langen, anmutigen Satz im Wald.
Der Schauspieler lachte endlich, zum erstenmal seit diesem Morgen, und fuhr wieder an.
Dora wandte sich nach links und stützte ihren Kopf zwischen der Polsterung der Vordersitze ab. So konnte sie mit der Linken Petříks Finger fassen und die Rechte auf Milans Knie legen.
Meine Liebsten, flüsterte sie ihnen unhörbar zu, meine Lieben, ihr seid die Heimat, die mit mir reist.
II
Das schmale tor zur weiten welt
Der Tag
Dienstag, den 21. Juni 1983
Der Gärtner ist mit einem Wecker im Kopf auf die Welt gekommen. Schon die Eltern staunten darüber, daß es genügte, abends eine Uhrzeit zu nennen, und der Junge erwachte beinahe auf die Minute pünktlich. Obwohl er gestern schon um drei Uhr früh aufgestanden war, als er sich entschied, direkt von Klíčov zum Treffpunkt zu fahren, damit er Věra nicht unbeholfen anlügen mußte, wurde er auch jetzt wach wie gewollt: zwanzig vor zwei. Wie Lydia hat er vermutet, die ganze Reisegruppe befinde sich zu dieser Stunde in tiefem Schlaf. Sein Mitschläfer bestätigte das. Er lag auf dem Bauch, einen Kissenknebel im Mund und atmete sausend durch die Nase.
Geräuschlos in die Kleider zu schlüpfen war die Sache eines Augenblicks. Die Tür, das wußte er seit gestern, knarrte ein wenig. Er öffnete beim nächsten Schnarcher, trug rasch, wie er das am Abend ausprobiert hatte, den Koffer samt Stuhl auf den Gang und stellte die Lehne unter die Klinke, um sie zu sperren. Er lauschte. Das Führertrio im Nebenzimmer schlief ebenfalls fest. Er hob den schweren Koffer und eilte die Treppe hinunter.
Auch die Pianistin hatte keine Probleme. Ihre laute Zimmergenossin bot ihr gestern an, sie könnte ihr nachts gern auf dem Kopf herumtanzen, sie schlafe wie ein Ziegelstein. Die Decke, unter der sich ihr toupierter Kopf verkrochen hatte, verriet in der Tat durch nichts, daß darunter ein Lebewesen steckte. Die Pianistin war so aufgeregt, daß sie nicht einmal einnicken konnte: Sie schlug die Zeit tot auf eine altbewährte Art, die ihr über die Wahnsinnsnächte hinweggeholfen hatte nach dem Verlust von Ilja, als sie am stärksten der Gashahn lockte.
Auch heute wählte sie eine passende Komposition, Beethovens «Pathétique» in c-Moll, die Tonart der Schicksalssymphonie, und sie ließ vor der Netzhaut die Klavierpartitur ablaufen. Nach all den Jahren, als sie sieben Tage die Woche zehn und mehr Stunden täglich übte, brauchte sie weder Noten noch Tasten und Pedale, nicht einmal Finger und Fußgelenk mußte sie bewegen, und dennoch spielte sie. Und war sie mit einer Stelle unzufrieden, wiederholte sie sie zum Umfallen oft, bis sie ihrer Vorstellung nahekam.
Als sie zu Ende war, ertönte stürmischer Beifall, wie ihr Gehör ihn bei dem letzten Konzert, das sie im Prager Rudolfinum noch geben durfte, dem Gedächtnis eingeprägt hatte. Sie schaute auf die Uhr: viertel zwei. Jede ihrer Bewegungen war überlegt, drei Minuten reichten, um sich anzuziehen und sich mit Koffer, Mantel und Stuhl auf den Gang hinauszuschleichen. Sie blieb also liegen und starrte das leuchtende Rechteck eines fremden Fensters an, teilnahmslos wie ein Papier ohne Botschaft.
Die letzten Jahre erschienen ihr, als stünde sie auf einer Felsebene, von allen Seiten durchweht. Der Wind der Enttäuschungen und Befürchtungen legte sich erst, als sie endlich den Panzerbalken passierte, geschmückt mit den Farben einer Nation, die ihn schon lange nicht mehr bedienen durfte. Den ganzen Tag über, während dem sie mit ihrem Liebsten nur verstohlen Blicke wechseln konnte, lebte sie in einem seltsamen Zustand der Gefühls- und Sinnenstarre. Als der Gärtner bei ihr zum erstenmal arbeitete, erklärte er ihr, Bäume kann man auch im Sommer verjüngen an bestimmten Tagen, an denen der Saft in ihnen zum Stillstand kommt. So fühlte sie sich jetzt selbst. Als hätte man in ihrem Leben eine Pause eingelegt, die Gönner und Kritiker hätten den Saal verlassen und ihr erlaubt, auf verdunkelter Bühne Atem zu holen.
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