»Nur das eine.«
»Konnte Herr Wenders den Mann beschreiben?«
Der Direktor schnaubt abfällig duch die Nase.
»Er nicht, aber ich. Ich habe ihn zufällig gesehen, als ich durch die Halle ging, und sein Aussehen fiel mir auf, weil es so untypisch für den Kreis unserer sonstigen Besucher war. Er war klein, kräftig, mit kurzen dunklen Haaren und trug eine schwarze Lederjacke und hohe Stiefel zum Schnüren.«
Sie sind auf dem Weg zum Ausgang, stellt der Detektiv in diesem Moment mit leichter Überraschung fest. Sein Gastgeber führt ihn allmählich, aber zielstrebig hinaus, während er immer weiter spricht.
»Springerstiefel heißen die Dinger, glaube ich. Ganz sauber und blank poliert, wie unsere damals, beim Barras. Und so eine Tätowierung auf der Hand, wie eine germanische Rune.«
Dann stehen sie auch schon vor der Tür, und nach kurzer Verabschiedung stellt Ringelnatz fest, daß er selten so elegant und beiläufig vor die Tür gesetzt worden ist wie gerade eben. Er geht zögernd ein paar Schritte, die Gedanken noch mit dem Gehörten beschäftigt, dann setzt er sich auf eine der Bänke vor dem Bibliotheksgebäude. Das helle Sonnenlicht wird an dieser Stelle vom Grün des Blätterdachs gemildert und gibt ihm eine Färbung, die Kühle auf der Haut erzeugt. Er fühlt sich besser jetzt, das Unwohlsein sinkt auf ein erträgliches Maß herab: Immer noch vorhanden, aber unterhalb der Grenze, die permanent störend wirkt.
In seinem Alter muß man damit rechnen, daß der Körper bisweilen nicht mehr so mitspielt wie früher.
Der feiste Bilfinger hat wahrscheinlich recht, was den Ablauf des Diebstahls anbelangt; vielleicht hat er auch recht in bezug auf das Motiv. Der Inhalt des Buches: Ein Komet fällt auf die Erde. Was kann daran so interessant sein, das Risiko eines Diebstahls einzugehen? Er muß mit jemandem reden, der es gelesen hat und der ihm mehr sagen kann als nur einen Satz.
Die Beschreibung des Diebes paßt natürlich auf die Hälfte aller jungen Neonazis in der Stadt. Eigentlich sollte die Polizei keine Schwierigkeiten haben, ihn zu identifizieren; die meisten dieser Typen sind aktenkundig. Aber Ringelnatz fällt es schwer, die rechte Szene mit Büchern im allgemeinen und diesem Buch im besonderen in Einklang zu bringen. Möglicherweise ist es ein Vorurteil, aber für ihn passen braune Gesinnung und Kultur nicht zusammen. Vielleicht wollte der Dieb ja auch nur aussehen wie ein Rechter und trug die Sachen als Tarnung.
Vielleicht doch ein Auftragsdiebstahl?
Achttausend Mark Versicherungswert, davon bleiben dem Dieb tausendfünfhundert, wenn er Glück und einen netten Hehler hat. Kein Profi macht dafür einen Finger krumm, und Amateure haben nicht den Mumm, so etwas durchzuziehen, falls sie überhaupt auf die Idee kämen.
Er schließt müde die Augen. Auch eine Errungenschaft der letzten Wochen: ständige Müdigkeit. Wann hat er zuletzt Urlaub gehabt? So richtig vor acht Jahren, damals, das letzte Mal mit Agnes. Alles, was später kam, war keine Entspannung mehr, sondern nur eine Flucht. Flucht aus dem Job, vor den Kollegen, aus dem Alltag.
Aus den Umständen.
Langsam kommt er von der Bank hoch, stemmt seine fast hundert Kilo mit Mühe in die Höhe. Er tritt aus dem Schatten der Bäume, die Hitze trifft ihn wie ein Schlag mit einer Wolldecke. Und er denkt, wie schon oft in der letzten Zeit: Du wirst aufhören nach diesem Fall. Die Idee, vor ein paar Wochen noch ganz vage, ist immer konkreter geworden, und jetzt steht es beinahe fest. Ringelnatz hat etwas Geld auf der Seite, nicht viel, aber es wird reichen, um die Zeit bis zur Rente in angenehmem Vorruhestand zu verbringen.
Er atmet auf, als hätte der Gedanke eine Befreiung gebracht. Ein Fall noch. Nächste Woche spricht er mit Millstatt. Sein Chef wird froh sein, daß er geht, aber er wird soviel Anstand haben, es ihn nicht spüren zu lassen. Vierzig Jahre Herumlaufen und Fragen stellen, das muß reichen; vierzig Jahre Unwillen, Reserviertheit und Ablehnung bei seinen Gesprächspartnern. Daran hat er sich niemals gewöhnen können, trotz der zahlreichen kleinen Erfolge, die er über die Zeit in seinem Job hatte und die ihm die Anerkennung seiner damaligen Vorgesetzten eingebracht haben.
Erfolge, die jetzt nichts mehr zählen.
Willi Ringelnatz gehört zum alten Eisen, für seine Vorgesetzten, seine Kollegen, aber auch für Freunde und Bekannte.
Und für sich selbst.
Der kurze, zischende Laut, als er den Vorhang beiseite zieht, zerschneidet die Luft wie eine Schwertklinge. Licht erhellt den Raum.
Felix steht im Flur des großväterlichen Hauses. »Sieh es dir mal an«, hat sein Vater gesagt. »Der Alte wollte es so. Er hat es zufällig noch mal erwähnt, ein paar Tage vor seinem Tod. Wenn mir mal was passiert, gib Felix meinen Hausschlüssel. Er soll in meinem Arbeitszimmer nachschauen.«
Eine Vermächtnis? Wenn es eine Belohnung beinhaltet, so hat er nicht das Gefühl, sie verdient zu haben. Er war nicht da, als sein Großvater starb, trotz seiner Bitte; das wirft er sich vor. Dann aber greift die Logik und beruhigt ihn: Du wärst auch nicht hier gewesen, wenn es möglich gewesen wäre. Du wärst nicht hier gewesen, weil es zu plötzlich kam und du hättest es nicht vorhersehen können.
Er sieht sich um: Es hat sich wenig geändert. Die Möbel, die Heinrich Ringel durch die letzten vierzig Jahre seines Lebens begleitet haben, sind immer noch wie neu, sorgfältig poliert und ohne ein Stäubchen. Felix weiß, daß die Sachen eine Menge wert sind, ausgesucht schöne, antike Stücke; aber das bedeutet ihm nichts.
Kein Laut ist zu hören, und in ihm breitet sich eine vage Beklemmung aus, wie Ringe im Wasser nach einem Steinwurf. Alles hier atmet noch die Gegenwart des Alten, jedes Stück der Inneneinrichtung weist auf ihn hin. In diesem Augenblick und an diesem Ort ist der Geist Heinrich Ringels noch so gegenwärtig und lebendig wie ehemals, und sein Enkel weiß, daß es eine ganze Weile dauern wird, bis ihm dieses Haus wirklich unbewohnt erscheint.
Das Haus ist nach dem Krieg gebaut, in den Sechzigern. Sein Großvater hat auch in einer Zeit, in der Geld knapp war, auf Qualität geachtet. Die Bauweise ist solider als die der anderen Gebäude in der Straße, und die Einrichtung ist auf Ewigkeiten ausgelegt: Stein- oder Parkettböden, Kacheln und Holzvertäfelungen, wo immer es möglich war. Bestimmt hat der Bau damals eine Menge Neid erzeugt und – als Balsam für die mißgünstigen Seelen – die Gerüchte über seine Vergangenheit weiter geschürt. Felix kann sich genau vorstellen, wie der Alte damals darauf reagiert hat.
Mit Gleichgültigkeit.
Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen ist eine der hervorstechendsten Eigenschaften des alten Ringel gewesen. Er hat sie alle ignoriert und zeigte ganz selten Interesse an fremden Personen. Seine Familie, ein paar Freunde, sie waren wichtig, alle anderen schienen ihm völlig gleichgültig zu sein. Anfangs wußte Felix nicht einmal, ob das nicht auch für einige Mitglieder der Familie galt.
Einmal, Felix mochte zehn Jahre alt gewesen sein, war er ein paar Tage bei seinem Opa zu Besuch gewesen. Die Eltern waren übers Wochenende fortgefahren und wußten ihn bei dem Alten in zuverlässigen Händen. Am Morgen kam ein junger Aushilfsbriefträger. Felix, sehr vorlaut für sein Alter, fragte ihn, wo der alte Postbote, den er von früheren Besuchen her kannte, sei. Er erfuhr, daß der Mann schwerkrank im Hospital lag.
Als er dies seinem Großvater erzählte, bekam er zur Antwort: »Aber wieso denn, ich habe ihm doch vorhin ein Einschreiben unterschrieben.« Er hatte offensichtlich nicht einmal wahrgenommen, daß der Briefträger diesmal ein viel jüngerer war als sonst.
Das war die Art Gleichgültigkeit, die Felix meinte. Ringel sah die Leute seiner Umgebung selektiv; einen Teil nahm er als Personen war, als Charaktere, die meisten aber nur als Gegenstände oder Funktionen.
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