Die Untersuchung vor ein paar Tagen geht ihm durch den Sinn. Er ist nicht unbedingt beunruhigt, aber doch ein wenig gespannt auf die Ergebnisse. In seinem bisherigen Leben ist er selten krank gewesen, und niemals ernsthaft, aber irgendwann, so denkt er, fängt der Körper halt an, nicht mehr zu funktionieren. Der Arzt hat ihm die Diagnose für nächsten Mittwoch versprochen.
»Was könnte sonst das Motiv gewesen sein?«
»Keine Ahnung. Eine Art ideeller Wert oder der Inhalt des Buches vielleicht. Könnte ich mir denken.«
Was meint er damit? Den Inhalt hätte man ja lesen können, ohne das Buch zu stehlen, und was ist ein ideeller Wert? Der Detektiv schaut ihn forschend an, beschließt aber, systematisch vorzugehen und erstmal das Nächstliegende zu klären.
»Wo hat der Band gestanden?«
Bilfinger wendet sich um, weist in Richtung auf eine Treppe, die nach unten führt, und setzt sich auch gleich in Bewegung.
»Dort unten. Kommen Sie.«
Raumgreifend stürmt er voran, so schnell ihn die kurzen Beine tragen; Ringelnatz, kurzatmig und wieder stärker transpirierend, vermag kaum zu folgen. Der Bibliotheksdirektor scheint besser in Form zu sein, als es seine aufgeschwemmte Erscheinung glauben läßt.
Ein paar Stufen nach unten, das Licht wird gedämpfter. Auch hier sind die Wände voll bis unter die Decke mit weißen oder bräunlichen Bücherrücken. Die Titel sind handschriftlich und immer noch gut lesbar auf jeden einzelnen aufgeschrieben, in eigentümlich spitzer, genauer Schrift, von einer Hand, die schon lange Staub ist.
Bilfinger tritt an ein Regal rechts neben dem Eingang und weist auf eine Lücke zwischen den Bänden.
»Hier war es.«
Ringelnatz sieht sich um.
»Und daß das Buch irgendwo anders hingekommen ist? Ausgeliehen? Oder in eine andere Abteilung, ein anderes Regal, aus Versehen?«
Er weist unbestimmt in den Raum um sie herum.
Schlagartig vereist die Miene des kleinen dicken Direktors, und seine Stimme hat nun jede Spur von Freundlichkeit und Sympathie verloren. Das Dreifachkinn zittert in schwachem Tremolo. Schwer zu sagen, ob es Aufregung ist oder Bindegewebsschwäche, in jedem Fall ist der Mann über die Maßen aufgebracht.
»So etwas gibt es hier nicht. Es gibt keine Versehen in diesem Haus, alles folgt bestimmten, festgelegten Abläufen. Regeln, Herr Ringelnatz, Regeln und Plänen. Jedes Werk hat seinen Platz, der genau festgelegt ist. Dort, und nur dort, kann es sein. Wenn es nicht dort ist, ist es gestohlen. Was nicht ist, wo es sein soll, existiert nicht. Jedenfalls nicht in diesem Haus.«
Ein klarer Standpunkt. Ringelnatz beschließt, nicht weiter darauf einzugehen, um den Mann nicht noch mehr aufzuregen, und setzt mit ruhiger Stimme fort.
»Wer hat den Verlust als erster bemerkt?«
»Das war Herr Zwanziger, einer unserer Bibliothekare.«
»Ist er für diesen Teil der Bibliothek zuständig?«
Huscht ein leichtes Unbehagen über die Miene Bilfingers?
»Nein, eigentlich nicht. Es war mehr ein Zufall.«
Es gibt also doch Zufälle in diesem Haus der Regeln. Der Detektiv setzt sein impertinentestes Lächeln auf, unterbricht den anderen aber nicht.
»Herr Zwanziger suchte eigentlich ein anderes Buch, das in der Nähe des gestohlenen steht. Irgend etwas fiel ihm am Rücken des ›Traktätleins‹ auf. Er zog es aus der Reihe und fand im Inneren eine Attrappe. Weiße Seiten.«
»Das war gestern nachmittag?«
»Richtig. So gegen vier. Wir haben sofort die Polizei gerufen, die die Attrappe dann mit ins Labor genommen hat. Von der Polizei hätten Sie übrigens alles, was ich Ihnen eben erzählt habe, auch erfahren können.«
Das heißt: »Diese Unterhaltung geht mir auf die Nerven und kostet mich Zeit, die ich nicht habe. Und wenn ich sie hätte, würde ich sie nicht mit dir verbringen.« Und es heißt: »Die Polizei wird es schon richten. Die brauchen keinen alten, abgehalfterten Plattfuß wie dich, um ihre Arbeit zu machen.« Ringelnatz spürt die Ablehnung, die in der letzten Minute in seinem Gesprächspartner entstanden ist, verzieht aber keine Miene.
Trotzdem beschließt er, es kurz zu machen.
»Sie haben zu Protokoll gegeben, daß der letzte, der das Buch ausgeliehen hat, der Dieb sein muß. Wie geht das Ausleihen denn vonstatten?«
Der Direktor macht jetzt den Eindruck wirklicher Genervtheit, nahe daran, die Geduld zu verlieren.
»Unsere Räume mit den Büchern sind zwar zugänglich, aber die Bücher dürfen ohne Aufsicht nicht berührt werden. Die Möglichkeit, daß ein Schaden entsteht, ist zu groß. Wenn sich jemand für ein bestimmtes Werk interessiert, dann meldet er sich beim Bibliothekar vom Dienst, ab acht Uhr morgens. Er erhält Einsicht in unsere Kataloge und sucht sich anhand derer das Buch oder die Bücher aus, die ihn interessieren. Manche kommen auch schon am Tag vorher, stöbern in den Regalreihen und treffen auf diese Weise ihre Auswahl. Der Bibliothekar sucht das Buch heraus, das dauert etwa eine dreiviertel Stunde. Er übergibt dem Interessenten das Buch, und der setzt sich damit in den Lesesaal, unten rechts vom Eingang. Bei besonders wertvollen Folianten erhält er dünne Handschuhe, um den direkten Kontakt zwischen Papier und Haut zu verhindern. Schweiß, Aminosäuren, Fett – Sie verstehen. Hat er fertig gelesen, gibt er das Buch zurück und geht. Für die Handschriften gilt dieses simple Procedere natürlich nicht. Sie werden nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zur Ansicht freigegeben, unter Aufsicht und ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken.«
»Und bei der Gelegenheit soll das Buch vertauscht worden sein?«
»Ja. Wissen Sie«, nun sinkt die Lautstärke des anderen auf ein Maß, das bei Verschwörungen oder Gesprächen über besonders unangenehme Geschlechtskrankheiten angebracht ist, »wissen Sie, am fraglichen Tag hatte Herr Wenders Dienst. Ein guter Mann, langjähriger Mitarbeiter mit hervorragendem Fachwissen, aber sehr kurzsichtig. Jetzt hat er ja eine neue Brille.«
»Und dieser Herr Wenders . . .«
» . . . schwört natürlich, keine Attrappe entgegengenommen zu haben, und wir können ihm das Gegenteil kaum beweisen. Aber – sagen Sie Wenders nichts von meiner Meinung zu dieser Geschichte. Wenn es so war, wie ich vermute, macht er sich sicherlich selber schon genug Vorwürfe. Das Buch entpuppte sich übrigens als Einband eines Kontobuches aus dem vorigen Jahrhundert; so was kann man auf Flohmärkten billig kaufen. Der Täter hatte sich sogar die Mühe gemacht, ein kleines papierenes Etikett auf den Rücken zu kleben, wie sie alle unsere Bücher tragen, mit einer entsprechenden Beschriftung.«
Der Detektiv lehnt sich mit wackligen Knien gegen ein kleines Stehpult. Ganz plötzlich steigt Übelkeit in seiner Kehle auf, und ihm wird heiß, trotz der konstant zwanzig Grad bei exakt sechzig Prozent Luftfeuchte, die in den Bibliotheksräumen herrschen. Er muß schnell raus hier, an die frische Luft.
Nur noch ein paar letzte Fragen.
»Der Dieb muß um die schlechten Augen ihres Angestellten gewußt haben«, würgt er hervor.
Bilfingers Antwort klingt abweisend.
»Haben Sie Wenders zufällig gesehen? Er sitzt da vorne an der Auskunft. Seine Brillengläser sind dick wie Panzerglas, für jeden erkennbar.«
Ringelnatz erinnert sich. Der Mann hat einen ängstlichen, verschüchterten Eindruck auf ihn gemacht, wie ein in die Enge getriebenes Kaninchen. Sein Augen hatten durch die vergrößernde Wirkung der Brille so ausgesehen, als wären sie in maßlosem Schrecken weit aufgerissen.
Weiß Gott, welche Szene ihm sein Chef wegen des Diebstahls schon gemacht hat. Auch wenn Bilfinger jetzt den Eindruck macht, besorgt um seinen Mitarbeiter zu sein, stuft Ringelnatz ihn in die Kategorie »cholerisch und rechthaberisch« ein.
»Hat der potentielle Dieb sich nur dieses eine Buch vorlegen lassen oder waren es mehrere?«
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