Die Stimme seiner Mutter klingt dünn und ohne Überzeugungskraft vom Rücksitz.
»Ein schöner Tod. Schnell und ohne Leiden, von einem Moment auf den anderen.«
Sie fahren schweigend das letzte Stück.
Nach einer halben Stunde biegen sie auf das Grundstück ein; die Auffahrt ist mit dickem, weißem Kies bestreut. Es hat sich einiges geändert, schon auf den ersten Blick. Früher gab es hier nur zwei Spuren aus Zementsteinen, mit spärlichem Gras dazwischen und links und rechts daneben. Zwischen den alten Apfelbäumen kommt das Haus in Sicht, und auch hier gibt es Neuerungen: Die Fassade ist renoviert, hellgelb gestrichen, mit Weiß an den Ecken und um die Fenster, und das Dach ist neu.
»Ihr habt mir gar nicht erzählt, was ihr alles gemacht habt.«
Der Wagen hält, Kies knirscht unter den Reifen. Auch die Stimme seines Vater ist verändert. Felix meint, sie wäre tiefer als früher, Ausdruck einer Selbstsicherheit, die er vor ein paar Jahren in diesem Ausmaß noch nicht besessen hatte.
»Das war überfällig, du weißt ja, wie es vorher aussah. Und als wir angefangen haben, da wollten wir es dann gleich gründlich machen. Du solltest mal den Garten sehen. Der Pool ist auch wieder in Ordnung.« Felix’ Augen werden immer größer. Das Anwesen, ein Haus aus den dreißiger Jahren, war früher ein Ärgernis für die noble Nachbarschaft, unordentlich, baufällig, eine Art ständiges Provisorium, das regelmäßig durch neue Provisorien ergänzt und teilweise ersetzt wurde. Nun macht es den Eindruck dauerhafter Stabilität.
»Das muß doch reichlich gekostet haben. Gehen die Geschäfte so gut?«
Er sieht seine Mutter an, bemerkt ein leichtes Flattern der Augenlider. Sein Vater antwortet breit lächelnd.
»Ich kann nicht klagen. Einige dicke Dinger im Osten – Thüringen und Brandenburg –, und hier tut sich auch langsam wieder was. Alles in allem ist die Entwicklung zufriedenstellend, und wir können zuversichtlich in die Zukunft blicken.«
Das klingt nun wie aus dem Rechenschaftsbericht des Vorstandes bei der Aktionärsversammlung. Felix erinnert sich, wie schlecht der Laden früher lief, immer am unteren Limit, die Nase gerade so über dem Wasser und in ständiger Gefahr unterzugehen. Architekten gibt es viele, und nur wenige können so gut von dem leben, was sie gelernt haben, wie es Erich Luckmann offenbar kann.
Wieder betrachtet er das Gesicht seiner Mutter und zum ersten Mal erkennt er die harten Linien, die sich um den Mund gebildet haben, die Ringe unter den Augen, sorgfältig mit den Mitteln der Kosmetik abgemildert, und die tiefen Furchen auf der Stirn. Sie ist älter geworden in der Zeit seiner Abwesenheit, viel älter, als es hätte sein dürfen. Bei ihren Besuchen ist ihm das nie aufgefallen; aber da hat die Freude immer alles andere ausgelöscht, und wirkliche Ruhe hatte man auch nicht miteinander.
Er umfaßt ihre Schultern.
»Du siehst müde aus, Mutti. Laß uns reingehen.«
Die Tür öffnet sich, und seltsam erleichtert bemerkt er, daß im Inneren alles unverändert geblieben ist. Die Möbel stehen noch so, wie er sie in Erinnerung hat, die Lage der Teppiche hat sich nicht verändert, und sogar die Tapete ist noch dieselbe.
Und plötzlich, von einem Moment auf den anderen, ist er wieder frei; alte, rostige Ketten fallen klirrend von ihm ab, und er spürt die eiserne Klammer von vorhin auf dem Friedhof nicht mehr. Ihm ist, als wären die letzten zwei Jahre ausgelöscht und er stünde wieder an dem Punkt, an dem er damals aufgehört hat, wirklich zu leben.
Die Höhe der Regale flößt Respekt ein; und die unüberschaubare Menge an Gedankengut, die auf ihnen lagert, ebenfalls. Achthunderttausend Bände, und dreitausend Handschriften in den Tresoren.
Wilhelm Ringelnatz hat keine tiefere Beziehung zu Büchern. In den sechzig Jahren seines Lebens hat er nur eine Handvoll gelesen, meist Kriminalromane, und die nicht aus Interesse, sondern eigentlich nur, um sich über die darin beschriebenen Ermittlungsmethoden und das aufregende Leben der Detektive zu amüsieren. Aber was ihm hier entgegenschaut, ist beinahe das gesamte Wissenspektrum der Menschheit des Mittelalters, gesammelt über Jahrhunderte, konzentriert auf einem Fleck und konserviert für die Zukunft. Dieses Bewußtsein nötigt ihm Respekt ab.
Die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ist bekannt in der bibliophilen Welt. Die in ihr lagernden Schätze der frühen Buchdruckerkunst und die Sammlung von Werken, die noch früher entstanden sind, faszinieren die Wissenschaft seit vielen Jahren.
Er war schon einmal hier, in einem anderen Fall, hatte das alte Gebäude aber nicht so prunkvoll in Erinnerung. Die hohe Halle in ihrer barocken Pracht, die sich wie ein zweiter Himmel über ihm wölbt, ist ein würdiger Rahmen für die Zeugnisse der Vergangenheit, und man kann hier nicht anders, als leise und andächtig zu sein.
Doktor Ernest Bilfinger, der Leiter der Bibliothek, strahlt bei allem, was er sagt und tut, eine bestimmte Art von Zufriedenheit und Stolz aus. Die kleinen, wässrigblauen Augen blitzen aus dem feist-rosigen Gesicht, so als wollte er sagen: »Hier sind wir, ein wertvoller Baustein im Weltwissen, anerkannt in allen Kulturen.« Auch jetzt blitzen sie, obwohl er in die Niederungen krimineller Verirrungen hinabsteigen muß.
»Wir sind natürlich froh, daß es keines unserer wirklich wichtigen Stücke betrifft. Stellen Sie sich vor, der ›Kopernikus‹, oder gar das ›Evangeliar‹ . . .«
Er schlägt in aufkommender Panik die Hand vor den Mund, so als müßte er sich am Schreien hindern. Ringelnatz lockert die Krawatte; er steht dem anderen in Leibesfülle in nichts nach, und ihm ist im Moment nicht ganz wohl. Das »Evangeliar«, so wertvoll es auch ist, ist ihm egal, denn es ist nicht bei der Insura, seinem Arbeitgeber, versichert. Wilhelm Ringelnatz ist das, was der Volksmund einen Versicherungdetektiv nennt.
Er zückt einen kleinen, weißen Block, auf dem gut sichtbar das Logo seiner Gesellschaft prangt: Hermes, Gott der Kaufleute und konsequenterweise auch der Diebe, stilisiert über dem Firmennamen schwebend.
»Das freut uns auch. Um welchen Band handelt es sich noch mal genau?«
Bilfinger senkt die Stimme noch weiter, so als könnte eine erhöhte Lautstärke die Aufmerksamkeit weiterer krimineller Elemente erregen.
»Das Buch heißt ›Traktätlein von dem Kometen, der im November Anno 1638 gesehen worden ist‹.«
Fragend blickt ihn der andere an.
»Was ist der Inhalt des Buches?«
»Wie Sie sich denken können, schildert es das Auftauchen eines Kometen im Jahre 1638. Der Autor hat versucht, sich wissenschaftlich mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen, was in den damaligen Zeiten des Aberglaubens an sich schon ein erstaunlicher Ansatz war.«
»Ist das Buch wertvoll?«
Bilfinger verdreht pikiert die Augen. Er ist mittelgroß und sehr dick. Die Reste dessen, was einmal ein mittelblonder Haarschopf war, liegt, sorgfältig nach vorn gebürstet und mit Frisiercreme an die Haut geklebt, quer über der Schädeldecke.
»Naja, irgendwie schon. Bei einer Versteigerung würde es ein paar tausend Mark bringen, aber ich glaube nicht an Gewinnsucht als Motiv.«
»Warum nicht? Meist ist Gewinnsucht das Motiv von Diebstählen.«
Der Direktor blickt jetzt mit verschwörerischem Ausdruck um sich. Der Detektiv zollt der Wandlungsfähigkeit im Mienenspiel des Mannes eine gewisse Bewunderung. Keine Sekunde scheint zu vergehen, ohne daß sich dessen Gesichtsausdruck ändert.
»Jemand, der ein Buch entwendet, muß sich mit antiquarischem Material auskennen. Er muß wissen, was er wo verkaufen kann. Richtig?«
Ringelnatz zuckt die Schultern.
»Wahrscheinlich.«
»Ganz bestimmt.«
Überschlaue Typen hat Ringelnatz noch nie ausstehen können. Aber vielleicht ist die aufkommende Aversion auch auf seinen momentan angegriffenen Gesundheitszustand zurückzuführen. Schön beim Aufstehen am Morgen war ihm übel, und er fühlte sich müde und schwach wie schon die ganzen letzten Wochen.
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