„Ja!“ antwortete überrascht der Knabe, „weshalb fragt Ihr?“
Der alte Trapper nickte. „Ich gehöre zu den Bleichgesichtern und ich füge keinem von ihnen ein Leid zu, mein Sohn, — nur einen unter allen nehme ich aus, diesen Stuart Collins.“
Hugo wagte nicht, dem Grunde dieses leidenschaftlichen Hasses nachzuforschen. „Ich danke Euch, Mister Jonathan,“ sagte er herzlich.
Der Trapper unterdrückte einen Seufzer. „Sprechen wir von angenehmeren Dingen,“ versetzte er, „so alte Erinnerungen machen traurig. Morgen sollst du den Umzug einer ganzen Dorfbewohnerschaft in der Prärie mit ansehen.“
Hugo freute sich sehr. „Eins könntet Ihr mir erzählen, Mister Jonathan,“ sagte er nach einer Pause, „ich hätte es schon so lange gern gewusst. Was ist das mit dem Medizinbeutel der Indianer?“
„Das will ich dir sagen, Kind, und wäre es nur, damit du nie einen Indianer danach fragst oder gar einen dieser Medizinbeutel an dich zu bringen suchst. Der rote Mann verachtet die Neugier.“
Er verschob das seltsam geformte, halb wie eine Tunika, halb wie ein gewöhnlicher Rock zugeschnittene Gewand aus Hirschleder und nahm unter den Falten desselben ein kleines ausgestopftes, wohlerhaltenes Vögelchen von buntem vielfarbigem Gefieder hervor. „Sieh,“ sagte er, „das ist meine Medizin!“
Hugo sah von dem kleinen hübschen Vogel in das Gesicht des Trappers und von diesem wieder zurück zu ersterem. „Auch Ihr?“ rief er voll Erstaunen, „auch Ihr?“
„Ja, Kind, auch ich. Jeder Indianer, sobald er erwachsen wird, macht sich seine Medizin; es wäre unmöglich als einer der Ihrigen unter ihnen zu leben ohne diesen Akt, der die Kindheit abschliesst, dem jungen Burschen einen Namen gibt und ihm das Recht verleiht, an den Beschäftigungen der Männer teilzunehmen. Ich habe das kleine Ding da vor vielen, vielen Jahren gläubigen Herzens angefertigt und gedacht, dass in jener Stunde der Grosse Geist mit mir gesprochen, — weshalb sollte ich es setzt wegwerfen?
Wenn der indianische Knabe fünfzehn Jahre zählt,“ fuhr er fort, „dann begibt er sich ohne alle Begleitung hinaus in den Wald oder die Prärie, fastet drei Tage und drei Nächte, öffnet auch während dieser Zeit die Lippen zu keinem Laut und setzt sich, wenn der vierte Tag anbricht, mit dem Rücken gegen einen Baum, um auszuspähen. Das erste Tier, welches er sieht, ist sein ‚Natohwa‘ oder Geheimnis, von den meisten einfach ‚Medizin‘ genannt, er hält es für seinen besonderen Schutzgeist und kehrt nun nicht eher in das Dorf zurück, bis er ein solches erlegt hat, worauf unter vieler Feierlichkeit die Haut des betreffenden Geschöpfes zubereitet und aus ihr der mit Gras und Moos gefüllte Beutel hergestellt wird.“
„Und Ihr habt auch so hungernd und stumm drei Tage und drei Nächte allein im Walde gelegen?“
„Ja, Kind! — und mein junges Herz war voll von heiliger Begeisterung, voll von den Schauern der Ehrfurcht.“
Er schwieg, und auch Hugo stützte, ohne zu sprechen, den Kopf in die Hand.
Jonathan stopfte neuen Tabak in die Pfeife. „Was ich dir hier erzählt habe, das bleibt unter uns, Junge,“ sagte er.
„Schau!“ unterbrach er sich plötzlich, „da sind Antilopen.“
Die schlanken, neugierigen Tiere kamen in der tiefen Stille der Nacht ganz nahe heran zum Feuer und drängten sich neugierig bis in den hellbeleuchteten Umkreis desselben. Hugo sah die schönen Köpfe mit ihren oft beschriebenen Wunderaugen, die anmutigen Bewegungen aus nächster Nähe.
„Jetzt pass auf,“ raunte der Trapper. „Sie verschwinden wie in den Boden hinein.“
Er klatschte plötzlich in die Hände, und gleich einem Schwarm aufgescheuchter Tauben flohen die scheuen Tiere nach allen Richtungen; nur Sekunden währte es, dann war der Platz leer.
In der inneren Höhle regte sich’s, der Gelbe Wolf sah hinaus auf die Prärie. „Hugh!“ stiess er leise, kaum hörbar, hervor.
Der Trapper wandte den Kopf. „Nichts, Sagamore!“ flüsterte er lächelnd.
Und dann legte er Hugos Decke näher zum Feuer. „Schlaf, Kind, ich kann mit meinen alten Augen für uns alle wachen.“
Der Knabe nahm seinen Platz wieder ein, er wollte den Schlummer abschütteln, eine Zeitlang kämpfte er auch tapfer gegen die stärkere Macht, aber dann zerflossen langsam die Gedanken in unbestimmte Bilder, und nach dem Tage voll Aufregung und Herzensweh fielen die Wimpern schwer herab. Er schlief fest.
Der Trapper warf noch eine zweite Decke über den Körper seines Schützlings, und dann sah er wieder, die Pfeife zwischen den Zähnen, stumm hinaus in die nächtliche Prärie.
Am folgenden Morgen sass die ganze Reisegesellschaft mit Sonnenaufgang im Sattel. Das Bärenfleisch wurde mitgenommen, ebenso das zottige Fell des alten Kaleb; die Sonne schien warm herab auf tausend Knospen und treibende keimende Blätter, auch Hugo fühlte sich heute schon viel freier als gestern, und Everetts Laune war geradezu unübertrefflich. „Die Wildnis lässt sich ganz gut an,“ sagte er, „ich erwachte in dieser Nacht nur zwölfmal und habe kaum ein halbes Schock Käfer und Eidechsen in meinen Kleidern gefunden. Wann werden wir Büffel schiessen, Jonathan?“
„Wenn uns welche begegnen,“ war die trockene Antwort. „Vorerst müssen wir jetzt absteigen und die Pferde am Zügel führen. Es kommt ein Hundedorf.“
Der Gelbe Wolf stand schon auf dem Boden und zog sorgfältig spähend sein Tier hinter sich her, alle übrigen folgten diesem Beispiel, und nun zeigte sich auch die Kolonie jener kleinen Vierfüssler, die in den nordamerikanischen Prärien zu Hunderttausenden leben. In je zwanzig bis dreissig Fuss Entfernung hoben sich vom Grau der Erde kleine Hügel, deren jeder oben auf seiner höchsten Höhe einen Eingang für die bewohnende Familie erkennen liess. Regelmässige Strassen hatte indes dieses seltsame Dorf nicht, so dass die Reisenden ihre Pferde hindurchziehen mussten.
„Wisch-ton-Wisch schläft noch,“ sagte der Gelbe Wolf.
„Seine Frau Base wird ihn schon wecken!“ lachte Duncan. „Ich habe diese vermaledeiten Dörfer häufig genug passiert, um die seltsamen Neigungen des Präriehundes zu kennen. Seht ihr da an jedem Eingang eine kleine Eule sitzen, meine Herren? — Das ist die Schildwache der Familie, zu welcher auch grosse gehörnte Eidechsen und Landschildkröten gehören.“
Aus allen Erdlöchern erhoben sich die Köpfe des amerikanischen Hamsters, eines kleinen hundeähnlichen Tieres, das, braun mit weissem Bauche, die Grösse eines Eichhorns zu haben schien, und das jetzt schweifwedelnd, äusserst wohlgenährt, in aller Gemütlichkeit vor seiner Haustür sass und jenen Laut hervorstiess, der mit der Hundestimme verwandt ist, aber trotzdem entschieden wie „Tschirp! Tschirp!“ klingt. Dieses Gebell verbreitete sich von Hütte zu Hütte; wohin das Auge sah, da wimmelte es von den kleinen zutraulichen Tieren, deren keines die geringste Furcht zu empfinden schien.
Langsam ging es weiter durch die Zwischen den unregelmässig verstreuten Hügeln sich hinziehenden Gassen der Hundestadt, immer begleitet von dem tausendstimmigen „Tschirp! Tschirp!“ des lustigen Völkchens. Plötzlich bäumte eins der Packpferde hoch auf, es schlug wild mit den Hufen und schnob, Everett, der es hielt, hatte genug zu tun, um nicht von dem erschreckten Tiere zu Boden gerissen zu werden.
Der Indianer und der Trapper standen, als sie diesen Laut hörten, wie auf Verabredung plötzlich still.
„Schlange!“ murmelte der Gelbe Wof. „Schlange!“
Er bückte sich und glitt unter und zwischen den Pferden dahin bis an das Tier des jungen Neuyorkers; es Zitterte immer noch am ganzen Körper, seine Mähnen waren gesträubt, seine Augen mit Blut unterlaufen. Everett suchte vergeblich, es zu beruhigen. „Häuptling,“ rief er, „was hat nur der Coriolan plötzlich?“
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