Max Halbe - Die Tat des Dietrich Stobäus

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Der Diplomat und Schriftsteller Waldemar Lewerenz hat sich nach dem Ersten Weltkrieg in München niedergelassen, fernab von dem väterlichen Gut Barkoschin nahe Danzig und getrennt lebend von seiner Frau Sabine. Das München der Zwanziger Jahre ist in Bewegung geraten. Revolution, okkultistische Treffen, rauschende Feste wecken die Geister. In dieser Phase lernt Waldemar Angele Moradelli kennen und lieben, bis dass Sabine in München auftaucht.AUTORENPORTRÄTMax Halbe (1865-1944) studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und promovierte 1888 in München. Anschließend ließ er sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Er gehörte zu den wichtigen Exponenten des deutschen Naturalismus. 1895 übersiedelte Halbe nach München und gründete das 'Intime Theater für dramatische Experimente'. Ebenso wurde er Mitbegründer der 'Münchner Volksbühne'. Mit Ludwig Thoma und Frank Wedekind pflegte Halbe eine Freundschaft.-

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Max Halbe

Die Tat des Dietrich Stobäus

Roman

Saga

1

An einem warmen Augustabend der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts lustwandelte der alte Justizrat Märchenschön mit seinem jungen Kollegen und Kompagnon Leonhardi an dem Strandbogen, der in anmutiger Überschneidung sich von Zoppot nach der bewaldeten Landspitze Adlershorst herumzieht. Die beiden Männer hatten sich eigentlich nur ein Stückchen von Kurhaus und Steg entfernen wollen, wo das letzte Badefest der Saison bunte Menschenscharen dichtgedrängt beisammenhielt. Aber wie sie schweigend nebeneinander fortschlenderten und die Walzerweisen der Kurkapelle immer ferner verklingen hörten, schien es, als wolle der schmeichelnde Sommerabend, der apfelsinenfarben über Wald und Meer hingegossen lag, sie tiefer und tiefer in seinen lichten Frieden locken.

„Wissen Sie, woran mich der Abend heute und überhaupt dieser ganze wolkenlose Sommer erinnern?“ fragte Märchenschön mit eins in das Schweigen hinein.

Leonhardi schüttelte mechanisch den Kopf. Er wäre am liebsten so fortgegangen, getragen von der lässigen Melodie halb oder kaum gewußter Gedanken, wozu der Rhythmus der leise atmenden See die Begleitung gab. Aber er wußte, daß Märchenschön keine Unaufmerksamkeit duldete, wenn er einmal ins Reden gekommen war. Also wandte er sich resigniert zu dem kleinen spitzbäuchigen Herrn, der mit seinem vorspringenden Vogelkopf unter dem schwarzen Schlapphut und dem aus Nase, Ohren und Kinn wuchernden grauen Rundbart wie ein Zwergenkönig in Zivil aussah.

„Wissen Sie, woran mich dieser fabelhafte Sommer erinnert?“ wiederholte Märchenschön und faßte seinen jungen Vertreter fest ins Auge, ihm gleichzeitig die Hand auf den Arm legend, wie um ihm jedes Ausweichen abzuschneiden.

„Nun?“

„Er erinnert mich an die Sommer meiner Jugend.“

Märchenschöns zwinkernde Augen hefteten sich in das Gesicht des andern, um dort die Wirkung abzulesen.

Leonhardi wußte nicht recht, was er aus den Worten seines Kollegen und Chefs machen sollte.

„Die Sommer Ihrer Jugend?“ meinte er schließlich zweifelnd.

„Jawohl, mein hochzuverehrender jüngerer Zeitgenosse!“ erwiderte Märchenschön und handhabte dabei den festgehaltenen Arm des andern wie einen Taktstock, mit dem er die Worte unterstrich und die Pausen markierte. „Die Sommer ... meiner ... Jugend!“

Märchenschön ließ Leonhardis Arm mit einem kurzen Schwung los, so daß er noch einen Augenblick wie ein Pumpenschwengel weiter pendelte, und lachte meckernd vor sich hin.

„Sie bilden sich natürlich ein, Sie kürzlich aus dem Ei gekrochener Hahn, ein Sommer sei so ungefähr wie der andere? Der eine etwas nasser, der andere etwas trockener, aber alle schließlich nach demselben Rezept gearbeitet: man schwitzt, man kriecht eine Stunde früher aus den Federn, man stülpt sich einen Strohhut statt eines Filzdeckels auf, man betreut seine Klienten bei Tageslicht statt bei Lampenschein, kurz, Sommer ist eben Sommer nach Ihrer höchst unmaßgeblichen Ansicht? Nicht wahr?“

„Ja, ist es denn nicht auch wirklich so?“ warf Leonhardi mit einem zerstreuten Lächeln hin.

„Es ist nicht so!“ donnerte Märchenschön, als gälte es, den Staatsanwalt vor den Geschworenen in Grund und Boden zu schmettern. „Es ist sogar das Gegenteil! Sommer und Sommer, das kann so zweierlei sein, wie der Surius aus Bomst und der Steinberger Kabinett zweierlei sind, wenn sie auch beide unter dem Namen Wein gehen. Der eine zerreißt Ihnen die Magenwände und treibt Ihnen das helle Wasser in die Augen. Der andere schmeichelt sich wie Honig durch die Kehle und zaubert Ihnen einen Blumengarten vor die Nase. Sehen Sie, der diesjährige Sommer, das ist wieder mal ein Steinberger Kabinett nach einem Menschenalter von Kretzer-Jahrgängen! Und solche Edelwein-Sommer hab’ ich in meiner Jugend so ein anderthalb Dutzend hintereinander erlebt, ehe der große Mißwachs einbrach.“

Märchenschöns rechter Arm beschrieb einen mächtigen Bogen durch die Luft, als wolle er den ganzen Ertrag dieses Mißwachses mit einer einzigen Gebärde wegfegen und die zurückbleibende Wüstenei im übrigen sich selbst überlassen. Dann senkte sich seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern.

„Es ist, als ob manchmal auf ganze Generationen ein Fluch gelegt wird. Ich bedaure euch Spätlingsvolk, das so ohne Sonne, Licht, Wärme, kurz ohne Sommer hat aufwachsen müssen. Man sieht ja auch, was zustande gekommen ist. Lauter verkrüppeltes Knieholz! Zwergpflanzen ohne Saft und Kraft! Wir alte, stolze, eisenfeste Garde dagegen! Unsere Jugend ist von der Sonnenglut der Zwanziger- und Dreißigerjahre des Jahrhunderts beschienen worden. Wir haben als junge Kerle Licht, Wärme, Glanz tonnenweise in uns eingeschluckt. Damit haben wir in der nachfolgenden Vereisung eingeheizt! Davon haben wir gezehrt in der ägyptischen Finsternis unserer Mannesjahre. Respekt vor uns Sonnenkindern, ihr amphybischen Eiszeitprodukte!“

Märchenschöns Plädoyer hatte sich aus mystischem Abgrund durch alle Register bis zu höchsten Höhen erhoben. Die possierliche Gnomengestalt schien ins Ungeheure zu wachsen. Die Augen schleuderten Blitze in die Runde und fuhren an der anderthalb Köpfe höheren Gestalt Leonhardis hinauf und hinunter, als müßten sie sie verdoppeln und verdreifachen, um sie in ihrer ganzen mikroskopischen Winzigkeit zu ermessen.

Aber Leonhardi schien an derartige Ausbrüche gewöhnt zu sein. Nachdem der erste Sturm sich gelegt hatte, meinte er gleichmütig:

„Ob nicht sehr viel Einbildung und Illusion hinter dem allen steckt?“

Märchenschön blieb wie festgenagelt stehen, stemmte die Arme in die Hüften und lehnte sich herausfordernd zurück.

„Wohinter steckt?“ fragte er drohend.

„Hinter Ihrer Behauptung, die Sommer Ihrer Jugend wären so unvergleichlich viel schöner gewesen als alle, die Sie nachher erlebt haben.“

„Erstens habe ich das nicht behauptet!“ kreischte Märchenschön. „Und zweitens ist es natürlich Einbildung, falls ich es behauptet habe.“

„Wie sagen Sie?“ fragte Leonhardi, jetzt wirklich etwas überrascht.

„Ich sage, daß alles in dieser Welt Einbildung ist, junger Mann! Daß das ganze Leben auf Illusion beruht, verehrter Fürst! Ist deshalb das Leben weniger real? Sind die Dinge dieser Welt darum weniger körperhaft? Stößt man sich den Kopf weniger an der Wand ein, weil man weiß, daß es eigentlich gar keine Wand ist, sondern etwas ganz anderes, was man nicht weiß? Und hebt etwa nach Ihrer Ansicht die Tatsache der Illusion die Tatsächlichkeit der Illusionen auf?“

Märchenschön verschnaufte sich einen Augenblick und maß seinen Begleiter mit einem triumphierenden Blick von oben bis unten, in dem die ganze Niederlage des andern beschlossen lag. Dann fuhr er milder und versöhnlicher fort, wie man dem Besiegten goldene Brücken baut:

„Es bleibt also dabei, junger Freund, daß die Sommer meiner Jugend die schönsten sind, die es jemals gegeben hat. Wobei ich Ihnen natürlich das Recht konzediere, das gleiche von Ihrer Jugend zu behaupten.“

„Danke! Kein Bedürfnis!“

„Weil es bei Ihnen noch nicht so lange her ist!“ schrie Märchenschön. „Weil Sie noch mitten darin stehen, Sie Kuckindiewelt! Da liegt der Hund begraben! Die Erinnerung ist es, die den blauen Dunst um die Dinge her macht, als hätte wunder was dahintergesteckt. Die Erinnerung ist die größte Betrügerin, die es auf Erden gibt. Mit der Erinnerung geht es wie mit der Abendsonne, die einem den finstersten Tag nachträglich vergolden kann. So die Erinnerung das Leben. Aber ist man deshalb weniger hereingefallen?“

Leonhardi nickte bei den Worten des Alten schweigend vor sich hin. Dieser ließ ihm keine Zeit, seine Gedanken fortzuspinnen.

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