Solchermaßen also enterbt, ausgestoßen, betrogen, verflucht von einem blinden und planlosen Schicksal, wie dürfte ich diesem Schicksal nicht tausendfach widerfluchen? Oder soll der Reisende, der auf einer Fahrt durchs Gebirge sich von einem betrunkenen Fuhrknecht geplündert und ausgeraubt sieht, diesem vielleicht noch danken, weil er ihn nicht zu guter Letzt noch in den Abgrund gestürzt hat? Und doch wäre das Verhalten eines solchen Fuhrknechts immerhin menschenfreundlich, verglichen mit der wahnwitzigen Bosheit meines Schicksals, das mir zwar in einem Augenblick höchster Gefahr zum Schein das Leben geschenkt hat, mir dafür aber kurz nachher mit einem stumpfen Messer hinterrücks die Kehle durchsägt, so daß ich bei klarem Bewußtsein alle Qualen langsamen Sterbens und Verblutens durchzumachen habe? Denn daß ich von dem Lager, auf dem ich diesen inständigen infernalischen Fluch niederschreibe, nicht mehr aufstehen werde, ist meine felsenfeste, unerschütterliche Überzeugung, so sehr auch meine beiden Ärzte, der eine ein Idiot, der andre ein Betrüger, das Gegenteil behaupten mögen.
Gewiß! Lungenentzündung, deren Ausbruch vorgestern nacht bei mir festgestellt wurde, ist nicht mit Notwendigkeit eine tödliche Krankheit, und Tausende laufen durch die Welt, die sie überstanden haben. Auch fühle ich mich nach der ersten Attacke rasender Brustschmerzen und Seitenstiche, die den Beginn der Krankheit anzeigten, heute bei mäßigem Fieber körperlich noch leidlich frisch und sollte also bis zum endgültigen Spruche des Geschicks diese abschließenden Zeilen vielleicht aufschieben. Aber erstens könnte es bei plötzlich eintretender Verschlimmerung leicht zu spät damit werden, und zweitens bedarf es einer äußeren Bestätigung nicht, da die innerliche Gewißheit nur allzu deutlich spricht.
Von Kindesbeinen an habe ich vor keiner anderen Krankheit Furcht gehabt, als gerade vor der, die jetzt im Mark meines Lebens sitzt, und oft genug bin ich im Traum gerade an dieser Krankheit gestorben. Solche Stimmen scheinen mir aus dem tiefsten Grund unseres Daseins zu klingen und verlangen, daß wir ihnen das Tor der Vernunft weit auftun, wenn wir unserer Bestimmung nicht wie das Kalb der Fleischerbank entgegentaumeln wollen. Was wir für diesen Vorzug unseres Menschtums freilich einzutauschen haben, ist die Qual des zum Tode Verurteilten, der mit Bewußtsein der nahen Vernichtung entgegenblickt. Ich habe — das darf ich sagen — auch diese namenlose Qual, neben all den anderen aus dem Füllhorn des Schicksals, bis zur Neige durchkosten müssen, denn schon wochenlang vor dem Ausbruch der Krankheit bin ich auf ihr Kommen und auf meinen baldigen Tod vorbereitet gewesen, wofür die beiliegenden Blätter Beweis erbringen werden.
Wäre nun, wenn der Vorhang der Zukunft durchaus vor meinen Augen gelüftet werden sollte, dieses noch um einige Monate früher geschehen, so hätte ich die Galgenfrist dazu benützen können, meine Lebensgeschichte vollständig fertigzustellen, wie das nach Plan und Anlage dieser Aufzeichnungen meine Absicht war. So aber hat der mir verbleibende Spielraum nur knapp dazu hingereicht, den zuvörderst begonnenen zweiten Teil, die Geschichte meiner Tat, im Rohbau zu beendigen. Der sie erklärende und begründende erste Teil dagegen, Kindheit, Jugend und frühere Manneszeit, müssen ungeschrieben bleiben, wovon der tiefere ironische Sinn vielleicht der, daß es des zustande gebrachten Geschreibsels gerade genug und für den Skribenten nun an der Zeit, die Feder aus der Hand zu legen, da es ihm auch hierzu wie zu allem anderen am richtigen Talent gemangelt hat.
Bereite dich also zum Sterben, alter Freund! Nach der Prognose deiner beiden Ärzte, des Betrügers und des Idioten, soll die Krisis etwa morgen abend eintreten, worauf baldige Genesung zu erwarten sei. In deine Sprache übersetzt, dürfte das heißen: Du wirst die Sonne des übermorgigen Tages schwerlich mehr zu Gesicht bekommen ... Nun gut! Wenn noch einige Logik in der Welt ist, so hoffe ich, daß die Pferde meines Leichenwagens vor irgendeinem alten Weibe durchgehen und den Sarg mit meinen Gebeinen in den Straßengraben befördern werden. Ich hätte dann wenigstens einem hochansehnlichen Trauergefolge noch einen letzten Spaß bereitet. Denen aber, die mich herauszufischen und auf dem Kirchhof einzuscharren haben, vermache ich in Dankbarkeit ein Faß vom allerfeinsten Fusel und ordne zum Schlusse an, daß auf meinem Grabe Nieswurz und Knoblauch anzupflanzen sind, damit alle ehrsamen Bürgersleute sich die Nasen zuhalten und einen weiten Bogen um meine Ruhestätte beschreiben, denn ich will allein sein ... allein ... ewig allein ...
Geschrieben am Vorabend meines Todes, zugleich des hundertfünfzigsten Geburtstages meines nachstehend mehrfach erwähnten Urgroßvaters, des Ratsherrn Johann Kaspar Stobäus.
Heute, Mittwoch, ist eine Woche vergangen, seit die Assisen das Nichtschuldig ausgesprochen haben. Seit einer Woche also bin ich frei und wieder Herr meiner selbst. Aber dreizehn Monate Untersuchungshaft sind nicht so im Handumdrehen aus den Knochen zu schütteln und noch weniger aus dem Gedächtnis, zumal wenn das Gedächtnis überwach ist, wie das eines im Finstern Daliegenden, der schlafen möchte und doch nicht schlafen kann. Wie viele Nächte habe ich so in der undurchdringlichen Dunkelheit meiner Zelle, in diesem schwarzen Schweigen einer enggewölbten Totengruft, als ein Lebendigbegrabener mit offenen Augen auf meiner Bahre dagelegen und meine Ohren für die geheimsten Regungen meines eigenen Verwesungsprozesses geschärft! Oh, man wird so unbeschreiblich hellhörig in dieser Grabesstille mit ihren zahllosen Flüsterstimmen, so über alle Maßen weitsichtig in dieser ummauerten Finsternis mit ihren plötzlich aufschießenden und verlöschenden Flammen, die wie Blitze in gewitterschwarzer Nacht fernste Bergspitzen an einen Geisterhorizont hinzaubern und wieder verschwinden lassen!
Schlechte Menschenkenner, ihr Richter und öffentlich prokurierten Ankläger! Anstatt eure Kapitalverbrecher noch rauchend vom Blut ihrer Opfer vor die Assisen zu stellen und sie durch die Wucht der frisch geborenen Tatsachen, an die das Bewußtsein sich noch nicht gewöhnt, mit denen sich das Gewissen noch nicht wie mit etwas Selbstverständlichem abgefunden hat, kurzerhand zu Boden zu schmettern, sperrt ihr sie monate-, vielleicht jahrelang in eine Art von erzieherischer Kerkerhaft und umgebt sie mit jener hellhörigen Stille, jener weitsichtigen Abgeschlossenheit, in der der Geist Zeit findet, dem Ungeheuren und Unausdenkbaren der vollbrachten Tat wie einer düstern und pfadlosen Felsenburg näherzutreten, gleichsam die Augen zu ihren drohenden Zinnen zu erheben und sich mit ihren Pforten, Brücken und Luken vertraut zu machen. Gelingt es dem Verfolgten auf diese Weise, sich in die Burg einzuschleichen, mit anderen Worten: Ergreift der Täter, der im Augenblick der Tat wie unter einem Naturzwang gehandelt hat, nun seinerseits von der Tat sozusagen geistig Besitz, lernt er sie seinem innersten Sein und Wesen einordnen und rubrizieren, lernt er geistig ihrer Herr werden, nachdem er zuvor auf roh körperliche Weise ihr Knecht gewesen, so wird er im Bezirk seiner Tat unbezwinglich und unüberwindlich und trotz aller Finten und Listen der draußen lauernden Verfolger wird es dennoch nicht glücken, ihn aus den Schlupfwinkeln seiner Festung herauszulocken.
Ich weiß wohl, die monatelange Einschließung soll nach der tiefgründigen Absicht richterlicher Weisheit den Belagerten langsam an Körper und Geist aushungern, soll durch den eintönigen und unermüdlichen Tropfenfall der Sekunden sich in sein Gehirn einfressen und es von innen her aushöhlen, bis das letzte Quentchen von Mut, Stolz, Energie, Widerstandskraft fortgeschwemmt ist ... Stümper eures Handwerks! Werft eure Schlingen nach denen aus, die dumm und verblendet genug euch von selbst hineinrennen! Nach den Kleinen, Schwachen, Niedrigen, Haltlosen, die nicht wert sind, um Kopf und Kragen gespielt zu haben, und denen ihr mit Recht ihren hohlen Schädel vor die Füße legt! Sie mögt ihr aushungern! Mögt sie zermürben und zerreiben mit euren Büttelkünsten und Henkersfaxen! Wir Starken, Aufrechten, Entschlossenen aber, die im hundertgradigen Feuer der Leidenschaft geschmiedet, in tausendfachen Schmerzen und Leiden gehärtet sind, wir Reiter-bis-ans-Ende-der-Welt, die gegen Tod und Teufel die höchsten Augen gewürfelt haben, wir lachen über eure kleinen Kniffe und Pfiffe! ...
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