1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Das erste einstündige Training verließ ich wie im Rausch. Nicht nur, weil ich endlich turnen durfte, sondern weil ich nun eine Vorstellung davon hatte, was ich tun musste. Mein Trainer war von der alten Schule, ich hatte vorher keinen anderen getroffen, der seine Athleten so konditionierte wie er. Als Hobby-Turnerin auf Level 1 bestand meine erste Trainingseinheit aus Sprints, sechzig Liegestützen, sechzig Rumpfbeugen, lächerlichen Klimmzug-Versuchen mit Ober- und Untergriff, Froschsprüngen, Relevés (wie eine Ballerina auf die Zehenspitzen stellen), ausgiebigem Dehnen und einer Einweisung in grundlegende Techniken. Ich wusste, dass ich eine unermüdliche Arbeitsmoral brauchte, wenn ich es jemals auf Wettkampfniveau schaffen wollte, und der Ablauf des ersten Trainings gab mir eine Vorlage, nach der ich arbeiten konnte.
An diesem Abend dehnte ich mich zwei Stunden lang und wiederholte das gesamte Konditionstraining. Es gab nicht viel, was ich zu Hause üben konnte, aber ich wollte so stark und gelenkig wie möglich werden, um meine knapp bemessene Zeit in der Turnhalle voll auszuschöpfen. Auch die darauffolgenden Abende dehnte und trainierte ich noch mindestens eine Stunde lang bis zur Schlafenszeit. Innerhalb von zwei Wochen beherrschte ich jeden Spagat perfekt und konnte die verlangten Konditionsübungen mit relativ korrekter Technik und Form ausführen. Es war nicht viel, aber es war ein Anfang.
Den ganzen Herbst, Winter, Frühling und Sommer lang übte ich in der kleinen Turnhalle im Einkaufszentrum und ergänzte mein Training zu Hause. Ich saß im Spagat, während ich meine Schularbeit erledigte, trainierte eine Stunde vor dem Schlafengehen und drehte Pirouetten auf unserem Küchenboden. Den größten Teil der naturwissenschaftlichen Literatur für die Schule las ich kopfüber, im halben Handstand an der Tür zum Wäschezimmer. Das Sofa nutzte ich häufiger, um Überspagat zu üben, als um darauf zu sitzen, und die rauen Holzbretter, mit denen neu gepflanzte Bäume in unserem Garten eingezäunt wurden, dienten mir als Schwebebalken.
Neun Monate nachdem ich zum ersten Mal die kleine Turnhalle betreten hatte, sage mein Trainer die Worte, auf die ich gewartet hatte: »Ich würde gerne darüber sprechen, dass Rachael dem Wettkampfteam beitritt.«
Für eine zwölfjährige Turnerin, die nicht »ins Profil passte«, konnte es nichts Besseres geben. Ich war nicht fürs Collegeturnen gemacht, geschweige denn für die Olympischen Spiele. Viele Trainer hätten mich links liegen lassen, aber meiner gab mir eine Chance. Endlich würde ich zu einem Mitglied von USA Gymnastics werden. Ich würde die Anstecknadel, den Mitgliedsausweis und einen echten Wettkampfanzug bekommen. Das war es, wofür ich so hart gearbeitet hatte, ich war begeistert.
»Was meinst du?«, fragte meine Mutter.
Wir waren beim Infotreffen gewesen, um zu erfahren, was es bedeuten würde, Teilnehmer des Wettkampfprogramms zu werden. Neben der Anzahl der Trainingstage und -stunden ging es vor allem um die finanziellen Anforderungen. Die Gebühren für die Turnhalle, die Wettkämpfe und die Kleidung sowie die »Nebenkosten« für Dinge wie Gelenkstützen und zusätzliche Trainingsanzüge waren zusammengenommen höher, als es sich meine Familie leisten konnte. Und meine Mutter hatte noch andere Bedenken. Sie wusste, dass zum einen Probleme mit dem eigenen Körperbild weit verbreitet waren und es zum anderen häufig Verletzungen gab. Aber ich wollte es. Ich wollte es unbedingt.
»Ich habe doch den Teilzeitjob als Babysitterin«, schlug ich vor. »Einen Teil von dem Geld brauche ich, um etwas zum Biologieunterricht beisteuern zu können. Aber der Rest könnte in meine Turngebühren fließen!«
Meine Mutter dachte eine Weile darüber nach, dann sagte sie: »Wir könnten fragen, ob es irgendwelche zusätzliche Arbeiten in der Turnhalle gibt, die wir übernehmen könnten, um die Gebühren zu reduzieren.«
Mein Puls beschleunigte sich. Ja! Es wird funktionieren!
»Aber was ist, wenn du dich verletzt?«, fragte sie dann und brachte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. »Dein Vater und ich wollen, dass du das tun kannst, was dir Spaß macht. Aber nichts ist so wichtig wie deine Gesundheit und deine Sicherheit, mein Schatz. Wenn wir das durchziehen, musst du darauf gefasst sein, dass du dich so schlimm verletzen könntest, dass es unklug sein würde weiterzumachen.«
Meine Eltern scheuten sich nicht davor, auch schwierige Themen anzusprechen, also diskutierten wir an jenem Abend über alle Eventualitäten, bevor wir eine Entscheidung trafen. Wir sprachen über die Sicherheitsvorkehrungen, die wir treffen würden, um mich vor falschen Vorstellungen bezüglich meines Körperbildes zu bewahren, wie wir die Kommunikation offen gestalten würden, damit ich mit allen Bedenken zu meinen Eltern kommen könnte, wie ich mit dem Druck umgehen würde, einen »Turnerinnenkörper« zu erreichen und dem Wunsch, meinem Trainer gefallen zu wollen. Auch meine Bereitschaft, den Sport aufzugeben, wenn es in meinem besten körperlichen, geistigen oder emotionalen Interesse lag, kam zur Sprache, welche Grenzen es für die Trainer geben sollte, wenn sie mir Hilfestellung gaben oder mich dehnten, wie ich die Privatsphäre in der Umkleidekabine wahren würde und welche Arten von Themen ein Trainer nie mit mir als Sportlerin besprechen sollte. Wir sprachen über alles.
Am Ende entschieden wir, es zu versuchen, die Ermahnung meiner Mutter stets vor Augen: »Wenn dein Vater und ich irgendetwas sehen, das uns Anlass zur Sorge um deine Gesundheit oder Sicherheit gibt, bist du schneller raus, als du dir vorstellen kannst.« Sie wusste, dass es schwierig sein würde, mich von diesem Sport abzubringen. »Und ich bin bereit, wenn nötig deinen Zorn mir gegenüber zu riskieren, um dich zu schützen.«
Uns all dessen bewusst, unterschrieben wir den Papierkram, bezahlten die erste Rate der Gebühren und kauften meine ersten Zughilfen (ein spezieller Handschutz mit kleinem Holzstab in der Nähe der Fingerspitzen, mit deren Hilfe man sich besser am Stufenbarren festhalten kann – WIE SIE DIE OLYMPIATEILNEHMER TRAGEN! Ja, zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben dachte ich immer in Großbuchstaben an sie).
Um ehrlich zu sein, ich hatte große Angst, als ich zum ersten Mannschaftstraining ging. Die Turnhalle war erst kürzlich in eine ehemalige Autowerkstatt umgezogen und besaß nun eine Tumbling-Bahn in (fast) voller Länge, eine verlängerte Anlaufbahn für Sprünge, einen zweiten Stufenbarren und eine Mannschaftskabine. Diese letzte Besonderheit war eigentlich nur ein winziger Raum mit einer Wand voll hölzerner Ablagefächer, aber trotzdem war es die Mannschaftskabine.
Unser winziges Team bestand aus neun Mitgliedern, angefangen von aufstrebenden Athletinnen auf Level 5, wie mir, bis hin zu unserer einzigen Turnerin auf Level 9. Ich war fast die Älteste und mit Abstand die Schlechteste, eine Tatsache, die mich ziemlich unsicher machte.
Meine Nervosität ließ jedoch schnell nach, als die erfahreneren Mädchen mich durch das selbstständige Aufwärmen und die Stunde mit Konditionsübungen führten, mit der jedes dreistündige Training begann. Sie beantworteten alle Fragen, die eine brennende Perfektionistin mit der Angst, Fehler zu machen, beschäftigten, und erzählten freundlicherweise selbstironische Geschichten von ihren ersten Tagen in der Mannschaft. Daher fühlte ich mich nicht ganz so dumm, als sich meine Beine nach der ersten halben Stunde Muskeltraining in Wackelpudding verwandelten (obwohl das nichts war im Vergleich zu dem Muskelkater, den ich in den nächsten zwei Wochen haben sollte).
Nach und nach wurde das Mannschaftsleben zur Routine. Meine Hände waren von Blasen übersät, rissig und schwielig, auch dann noch, als meine Muskeln sich bereits an das intensive Konditionstraining gewöhnt hatten. Jeden Tag erledigte ich meine Schularbeit, ging babysitten und dann in die Turnhalle. Einmal die Woche – um einen Beitrag zu den Kosten meiner heiß begehrten Turnstunden zu leisten – half ich meiner Mutter, die ganze Einrichtung zu putzen.
Читать дальше