»Ach übrigens, wir haben die Tageszeitung versteckt«, rief Mama beiläufig vom Wohnzimmer herüber, »also such sie erst gar nicht.«
Meinen Eltern war wirklich alles zuzutrauen. Es dauerte eine Ewigkeit bis zum Abend. Endlich durfte ich in dem schwelgen, was das halbe Land – jeder, der keine Eltern hatte, die auf Schlafenszeiten bestanden – bereits am Vorabend genossen hatte. Begeistert kreischte ich bei jeder schön ausgeführten Serie von Überschlägen, jeder Reckübung und Schwebebalken-Kür, voller Ehrfurcht vor der absoluten Perfektion, die über unseren Fernsehschirm wirbelte. Der unglaubliche Fleiß und die harte Arbeit dieser jungen Frauen zahlten sich direkt vor meinen Augen aus, als sie eine Übung nach der anderen mit Bravour meisterten. Und wie der Rest der Welt schnappte ich erschrocken nach Luft, als Dominique Moceanu in der vorletzten Übung des Wettkampfs bei ihren beiden Sprunglandungen stürzte und somit drohte, das amerikanische Team in letzter Minute vom ersten Platz zu stoßen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie sie sich gefühlt haben musste. Ich wusste, dass sie sehr gut war, sehr hart gearbeitet hatte und ihr der Wettkampf sehr wichtig war. Jetzt blieb nur noch Kerri Strug übrig – mit dem letzten Sprung des Abends. Ich wusste, wie das Punktesystem funktionierte; noch ein gelungener Sprung würde dem Team den Sieg sichern. Aufgeregt beugte ich mich nach vorne. Jeder meiner Muskeln war angespannt, als sie die Anlaufbahn entlangsprintete, sich vom Sprungbock abstützte, darüberflog und dann … auch Kerri schaffte es nicht, präzise zu landen. Als sie für ihren zweiten Sprungversuch zum Startpunkt zurückhumpelte, war klar, dass sie sich am Fuß verletzt haben musste.
»Neeein. Nein, nein, nein!«, jammerte ich und hielt mir die Hände vors Gesicht. »Sie werden verlieren. Sie sind so nah dran und jetzt werden sie verlieren!« Das also hatte mein Vater gemeint. Aber es gab noch einen winzigen Hoffnungsschimmer. Noch war ein letzter Sprung ausstehend. Und wie am Vorabend sicher auch der Rest der Welt schrie ich vor Aufregung, als Kerri nach diesem letzten Sprung auf ihren Füßen landete, kurz stehen blieb und dann – offensichtlich von Schmerzen überwältigt – auf der Matte zusammenbrach.
Ich sah, wie die Trainer und ein Arzt zu ihr eilten. »Ich hab sie, ich hab sie, … ich hab sie«, hörte ich eine Männerstimme sagen.
Die Emotionen des Augenblicks waren förmlich spürbar. Diese jungen Mädchen hatten mit ihren perfekten Körpern geschafft, was keinem anderen US-amerikanischen Turnerinnen-Team je gelungen war. Sie hatten einen hohen Preis bezahlt, einschließlich der Verletzung einer Kameradin, aber sie hatten durchgehalten. Es war unglaublich.
Wieder einmal wusste ich, wie sehr ich diesen Sport liebte. Als ich klein war, hatte ich regelmäßig Turnstunden gehabt und war seitdem davon fasziniert. Ich konnte mich an vieles nicht mehr erinnern – nur daran, wie sehr die Schaumgrube gestunken hatte. Und wie gerne ich hatte weiterturnen wollen, als es aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich gewesen war. Es war einfach zu teuer.
Inzwischen war ich elfeinhalb, also ein paar Jahre zu alt, um ernsthaft eine Karriere als Turnerin zu beginnen. Trotzdem wollte ich zurück in die Turnhalle. Alles daran faszinierte mich. Ich liebte die Kombination aus geistiger und körperlicher Fähigkeit, die der Sport erforderte. Den hohen Grad an Perfektion und die vielen Wiederholungen, die nötig waren, um jede Bewegung makellos und schön auszuführen. Ich staunte über die körperliche Stärke und Gelenkigkeit der Turnerinnen sowie über ihren Fleiß und ihre Entschlossenheit. Es gefiel mir, dass man diesen Sport nicht halbherzig oder nebenbei erlernen konnte. Ich war Perfektionistin und wollte einen Sport, der genau das von mir verlangte.
Nach diesem Abend, an dem ich zugesehen hatte, wie unser Team sich die Goldmedaille holte, begann ich, meine Eltern darum zu bitten, wieder Turnunterricht nehmen zu dürfen. Ich flehte und bettelte, bis meine Mutter bei ein paar Vereinen anrief. Aber die Gebühren waren selbst für Einsteiger ziemlich hoch und stiegen danach rapide an.
Als wir wieder einmal darüber diskutierten, platzte ich plötzlich heraus: »Ich werde mithelfen, das Geld dafür aufzutreiben.«
»Wie bitte?«, fragte meine Mutter ein wenig erschrocken.
»Ich werde helfen, dafür zu bezahlen«, wiederholte ich.
Sie schwieg einen Moment. »Du willst es wirklich so gerne?«
»Ja.« Ich atmete tief durch. »Ja, ich will es wirklich.«
Ich arbeitete schon seit einiger Zeit als Babysitterin und war es gewohnt, Geld beizusteuern, wenn ich etwas Besonderes haben wollte. Für meinen Klavierunterricht half ich Mama bereits, das Haus meines Klavierlehrers zu putzen – ein freundliches Entgegenkommen meines Lehrers, welches es mir und meinen Geschwistern ermöglichte, ein Instrument zu erlernen. Die Idee, für meine Turnstunden zu arbeiten, erschien mir also völlig logisch. Alles, was ich wollte, war eine Chance.
»Na gut«, antwortete meine Mutter. »Wenn es dir wirklich so viel bedeutet, werden wir einen Weg finden, es möglich zu machen.«
Ein paar Wochen später stand ich in einem kleinen Turnstudio, inmitten eines Einkaufszentrums. Ich sah zu, wie ein Mädchen einen Handstützüberschlag vorwärts übte – in einem winzigen Vorraum, der noch dazu mit Plastikstühlen vollgestopft war. Der renovierte Laden, in dem sich auch eine Turnhalle befand, war so klein, dass nur eine halbe Tumbling-Bahn, ein verkürzter Sprunganlauf, ein Stufenbarren und ein paar Schwebebalken hineinpassten. Einige Matten und die nötige Ausrüstung fürs Männerturnen rundeten die kleine, vollgestellte Arena ab. Es war kaum etwas los – nur eine Handvoll Mädchen im Wettbewerbs-Team und ein paar Freizeitkurse.
Nebenan boten die Angestellten von Claire’s Boutique duftende Lotionen und glitzernde Haarspangen feil, während einen Raum weiter Turnerinnen mit blutenden Händen und zweckmäßigen Pferdeschwänzen durch die Luft wirbelten. Man konnte den Kreidestaub in der Luft riechen. Ich liebte es.
Meine Mutter freundete sich sofort mit der Empfangsdame an, und später bemerkte sie, wie gut sie es fand, dass die Eltern alles sehen und hören konnten, was in der Turnhalle vor sich ging. Wir hatten beide noch keine Ahnung von der dunklen Seite, die mein Lieblingssport mit sich bringen würde, aber meine Mutter besaß eine große Portion gesunden Menschenverstand. Zu wissen, was mit ihren Kindern geschah, war für sie immer sehr wichtig. Sie hatte auch keine Scheu davor, die einzige Mutter zu sein, die immer dabei war, um alles zu beobachten, auch wenn andere Eltern sich deshalb über sie lustig machten.
»Es ist egal, was die anderen sagen oder denken«, sagte sie mir. »Dein körperliches und geistiges Wohl sind es mir wert, als Spinnerin angesehen zu werden!«
Als wir die Turnhalle an jenem Tag verließen, war ich für den Anfängerkurs angemeldet, besaß meinen ersten Turnanzug (aus Baumwolle, mit graublauem Karomuster) und war so aufgeregt, dass ich Schmetterlinge im Bauch hatte. Die fünf Tage, die ich auf meine erste Stunde warten musste, fühlten sich wie eine Ewigkeit an.
Als ich in der darauffolgenden Woche aus dem kleinen Studio trat, war ich erschöpft, aber beschwingt. Mein Trainer war der Betreiber der Turnhalle, ein ehemaliger Goldmedaillengewinner aus Osteuropa. Er übernahm die meiste Trainingsarbeit – angefangen bei dem großartigen Mädchen, das ich am ersten Tag über die halbe Tumbling-Bahn hatte wirbeln sehen, bis hin zu Anfängerinnen wie mir.
Was mich betraf, ich sah lächerlich aus und wusste es. Mit meinen fast zwölf Jahren war ich 1,67 Meter groß, schlaksig, mit langem Oberkörper. Ganz und gar nicht wie die winzigen Athletinnen, mit denen ich trainierte, die kompakte Muskeln und einen perfekten Körperbau hatten. Doch ich wusste, was ich wollte und dass ich alles erreichen konnte, wenn ich nur hart genug dafür arbeitete. Eigentlich reichte es mir schon, es einfach nur um der Freude willen zu tun, die es mir brachte.
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