»Ich kann nicht zulassen, dass du anderen wehtust«, sagte sie mir. »Aber ich will dir helfen, das hier durchzustehen und Wege zu finden, deine Gefühle auszudrücken, ohne andere zu verletzen.« Und dann weinte sie mit mir.
Liebe versucht zu verstehen und zu kommunizieren. Statt frustriert und wütend darüber zu sein, was ich getan hatte, versuchte mich meine Mutter mit Liebe zu erreichen, ohne dabei die Wahrheit zu beschönigen oder andere ungeschützt zu lassen.
Auch meine Eltern baten um Entschuldigung, wenn sie etwas falsch gemacht hatten. Die Verantwortung für getroffene Entscheidungen zu übernehmen, war in unserer Familie genauso wenig verhandelbar wie demütig genug zu sein, falsche Entscheidungen zuzugeben und um Vergebung zu bitten. Es war einer der Aspekte unseres Familienlebens, die ich am meisten schätzte, weil ich gesehen hatte, was geschehen konnte, wenn dies nicht der Fall war.
In meiner frühen Kindheit erlebte ich, wie eine uns nahestehende Familie infolge von Missbrauch auseinanderbrach. Der Vater hatte ein massives Wutproblem. Wenn irgendetwas nicht nach seinem Willen lief, ließ er es an seiner sanften Frau und seinen kleinen Kindern aus. Nicht körperlich, doch sein verbaler, emotionaler und psychischer Missbrauch hinterließ Wunden auf ihren Seelen, die nicht weniger schmerzhaft waren als Faustschläge. Er hatte immer Gründe und verteidigte sich damit, sie hätten etwas getan, um seine Wut zu verursachen. Hin und wieder gab er zwar zu, dass er anders hätte reagieren sollen, doch auf seine Entschuldigungen folgte immer ein »Aber ihr …!«.
Der Tag, an dem sich alles zuspitzte, war meine erste Erfahrung mit einem Missbrauchsopfer.
Die Frau war in ihren Dreißigern. Ich war neun und werde nie vergessen, wie ich auf Zehenspitzen stand und versuchte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, während ich die weinende Frau umarmt hielt. Mir war ganz schlecht vor Kummer über das, was man ihr angetan hatte. Meine Eltern sprachen in der Zeit oft mit uns Kindern über die unschönen Situationen, die wir zwangsläufig miterlebten. Sie hatten uns beigebracht, das Licht zu lieben und zu schätzen – nun war es ihnen wichtig, dass wir auch die dunklen Seiten des Lebens kennenlernten.
»So verhalten sich Menschen, die andere missbrauchen«, erklärten sie uns. »Alles dreht sich nur um sie. Sogar wenn sie sich entschuldigen, konzentrieren sie sich auf sich selbst – wie ihnen Unrecht getan wurde oder was sie ihrer Meinung nach alles richtig gemacht haben –, um so den Fokus vom Leid abzulenken, das sie verursacht haben. Sie übernehmen nie wirklich die Verantwortung für irgendetwas.« Solche Menschen schieben die Schuld immer auf andere, sagten sie. Aber die Liebe tut das nicht. Die Liebe kümmert sich zuerst um den Schaden, der der anderen Person zugefügt wurde. Und im Gegensatz zu Missbrauch entschuldigt oder verharmlost die Liebe kein Fehlverhalten.
»Wenn du jemandem wehgetan hast und dich entschuldigen musst, sagst du: ›Das und das tut mir leid‹, und fertig. Du machst einen Punkt. Du sagst nichts, um das, was du getan hast, zu rechtfertigen, zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Du bist immer für deine Entscheidungen verantwortlich, unabhängig davon, was jemand anderes getan hat.« Diese Art von Liebe lebten mir meine Eltern jeden Tag vor.
Mit neun Jahren lernte ich so die Kennzeichen von Missbrauchstätern zu erkennen. Und noch etwas lernte ich aufgrund meines schweren Asthmas und meiner Allergien schon früh: dass selbst die gutmütigsten Ärzte Behandlungspläne verfolgten, die unangenehm sein konnten. Doch es sollte noch Jahre dauern, bis ich erkannte, wie geschickt sich die verschiedensten Muster von Missbrauch als Aufrichtigkeit tarnen und wie schön sie verpackt sein können.
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»Du wirst enttäuscht sein«, sagte mein Vater ernst.
»Was ist?«, schrie ich fast durchs Telefon. »Haben sie verloren? Was meinst du damit?«
»Ich meine damit, dass du enttäuscht sein wirst.« Es kratzte in der Leitung.
»Oh nein …«, stöhnte ich. »Wie konnten sie verlieren? Sie lagen gestern Abend so weit vorn! Du musst mir erzählen, was passiert ist!«
»Auf gar keinen Fall«, lachte mein Vater. »Du musst warten, bis wir es heute Abend zusammen ansehen.«
»Du machst mich wahnsinnig!«
Es war der Sommer 1996. Die Olympischen Spiele fanden in diesem Jahr in Atlanta statt, und das Mannschaftsfinale der Turnerinnen war am Vorabend ausgestrahlt worden. Ich verfolgte den Sport schon seit einiger Zeit wie besessen. Die Turnerinnen, ihre Trainer, das Punktesystem, die internationale Konkurrenz … das alles war unglaublich spannend für mich. Ich kannte die Kürmusik jeder einzelnen Turnerin und meine Lieblingselemente ihrer Übungen, wusste, welche Turnerinnen so groß waren wie ich und welche bei diesen Spielen vielleicht Rekorde brechen würden. Ich hatte jeden Wettkampf verfolgt außer den vom Vorabend, an dem die Frauen im Mannschaftsfinale angetreten waren. Wie die ganze Nation hatte ich seit Monaten auf diesen vielversprechenden Wettkampf gewartet, es gab nur ein Problem. Das Mannschaftsfinale wurde spät nachts ausgestrahlt – und meine Eltern bestanden auf regelmäßige Schlafenszeiten.
Das muss man sich mal vorstellen. Es war das größte Ereignis im Turnen, unser Team würde vielleicht die erste US-amerikanische Frauenmannschaft aller Zeiten werden, die eine Goldmedaille gewann! Und meine Eltern schickten mich ins Bett.
Immerhin hatten sie mir versprochen, die Übertragung für mich aufzunehmen, damit ich mir jede einzelne Kür ansehen konnte. Wir würden es am nächsten Tag gemeinsam anschauen, sagten sie. Großartige Idee. Nur dass ich, als ich am nächsten Morgen aufwachte, aus dem Bett sprang und schrie: »Haben sie gewonnen? Was ist passiert? Haben sie gewonnen?« Die Antwort, die ich darauf erhielt, war: »Wir werden es alle gemeinsam ansehen«, was so viel bedeutete wie: »Und davor werden wir dir nichts verraten!«
Was noch schlimmer war: Gemeinsam bedeutete mit meinem Vater. Nach der Arbeit. Abends. Das hieß, dass ich den ganzen Tag warten musste, um zu erfahren, was passiert war.
Egal wie sehr ich drängte, meine Mutter weigerte sich, auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wie das Finale am Vorabend ausgegangen war.
»Du musst es mir erzählen!«, jammerte ich mit beinahe verärgertem Unterton.
»Kommt gar nicht infrage«, antwortete sie, während sie ganz offensichtlich jeden Augenblick genoss. »Du wolltest das ganze Erlebnis, es unmittelbar mitverfolgen, also werde ich dir nichts sagen! Du musst es selbst herausfinden, wenn wir es heute Abend ansehen!«
»Ahh!«, rief ich.
Dann hatte ich einen brillanten Einfall. Ich wartete, bis Mama die Küche verließ, eilte zum Papierkorb und begann, die Zeitungen zu durchwühlen. In der Ausgabe von heute Morgen würde ich die Ergebnisse sicher finden.
Ha!, dachte ich triumphierend, während ich darauf achtete, keinen Lärm zu machen. Die Wahrheit war, dass ich Spannung hasste und es nicht ausstehen konnte, Dinge nicht zu wissen. Ich war eines der Kinder, die ein Wörterbuch benutzten, um jedes Wort nachzuschlagen, von dem meine Eltern sagten, dass sie es mir erklären würden, wenn ich älter wäre. Ich war eigenständig. Ich konnte die Antworten selbst finden. Ich würde einfach einen Blick auf die Ergebnisse werfen und meinen Eltern nichts davon erzählen, damit sie am Abend ihr Freude genießen konnten, mich zu »überraschen«. Wo war diese blöde Zeitung?
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