1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 Mit jedem Kapitel, das ich las, spürte ich mehr einen Krieg in meinem Innern toben. Ich wusste, dass einige der Charakterisierungen von Trainern in diesem Sport wahr waren, weil ich selbst schon solche erlebt hatte. Doch als ich am Ende des Buches angelangt war, klappte ich es zu, setzte mich auf den kratzigen Berberteppich in unserem Keller und schüttelte den Kopf. Ich hatte ein ungutes Bauchgefühl und meine Gedanken überschlugen sich.
Das kann nicht wahr sein, dachte ich. Es kann nicht alles wahr sein. Die Autorin muss übertrieben haben. Sie muss die schlimmsten Beispiele herausgepickt und all die guten ausgelassen haben. Obwohl ich den Gedanken, ob die Realität wirklich so hässlich sein konnte, bewusst von mir wies, verspürte ich weiterhin ein nagendes Gefühl in der Magengrube. Immer wieder drehte ich das Buch in meinen Händen um.
Nichts, was sie sagt, ist ein Geheimnis, dachte ich. Wenn sie die Wahrheit sagt, sind die Beweise offensichtlich und nicht schwer zu finden. Sie hat sie gefunden. Wenn sie die Wahrheit sagt, weiß jeder bei USAG, dass diese Dinge passieren.
Ich atmete tief durch und schüttelte wieder und wieder den Kopf, als wollte ich meine Zweifel und Bedenken abschütteln. »Es kann nicht wahr sein«, wiederholte ich laut. »Denn wenn es wahr und wirklich so schlimm wäre, dann wüssten es alle. Und wenn sie es wüssten, würden sie es stoppen, oder? Ganz sicher glaubt niemand wirklich, dass Medaillen mehr wert sind als kleine Mädchen.«
Ich wiederholte es immer wieder und tröstete mich mit diesem Gedanken. Es kann nicht wahr sein, denn wenn es wahr wäre, würde es jemand stoppen. Jemand würde für diese Mädchen eintreten.
Jemand würde es stoppen.
Jemand würde es stoppen.
Oder?
[ Zum Inhaltsverzeichnis ] Inhalt Vorwort [ Zum Inhaltsverzeichnis ] Anmerkung der Autorin [ Zum Inhaltsverzeichnis ] Prolog [ Zum Inhaltsverzeichnis ] EINS [ Zum Inhaltsverzeichnis ] ZWEI [ Zum Inhaltsverzeichnis ] DREI [ Zum Inhaltsverzeichnis ] VIER [ Zum Inhaltsverzeichnis ] FÜNF [ Zum Inhaltsverzeichnis ] SECHS [ Zum Inhaltsverzeichnis ] SIEBEN ACHT NEUN ZEHN ELF ZWÖLF DREIZEHN VIERZEHN FÜNFZEHN SECHZEHN SIEBZEHN ACHTZEHN NEUNZEHN ZWANZIG EINUNDZWANZIG ZWEIUNDZWANZIG DREIUNDZWANZIG VIERUNDZWANZIG FÜNFUNDZWANZIG SECHSUNDZWANZIG SIEBENUNDZWANZIG ACHTUNDZWANZIG NEUNUNDZWANZIG Epilog Dank Über die Autorin Beratungs- und Anlaufstellen für Betroffene sexualisierter Gewalt Anmerkungen
»Ja!«, kreischte Erin und reckte eine Faust in die Luft.
»Du hast es geschafft! Du hast es geschafft!« Sie schrie so laut, dass man es in der ganzen Halle hören konnte, während sie eine der Turnerinnen stürmisch umarmte. »Ich bin so stolz auf dich!«
Es war Hochsommer und Erin hatte das Training für die Saison übernommen, damit der Betreiber der Turnhalle seine Familie in Europa besuchen konnte. Erin war bei Weitem die lebhafteste Trainerin, die man sich vorstellen konnte, und sie gab alles, um unser winziges Team und jede einzelne Person darin mit ihrer unübertroffenen Zielstrebigkeit zu formen und zu unterstützen. Natürlich erwartete sie dafür viel von uns, doch sie verband ihren Unterricht mit einem so intensiven Enthusiasmus, dass er die ganze Turnhalle mit Energie auszufüllen schien.
»Stell dich da hin«, sagte sie eines Tages und zeigte auf eine Linie am Boden. Sie versuchte, mir zu erklären, in welchem Winkel ich aufkommen musste, um meinen Handstützüberschlag rückwärts mit der richtigen Streckung auszuführen. Ich stellte mich gehorsam an die Linie; dann kam sie zu mir her und stellte sich nur wenige Zentimeter entfernt vor mir auf.
»Wenn wir fertig sind, solltest du das hier können«, erklärte sie und sprang ohne ein weiteres Wort rückwärts in einen Handstützüberschlag, wobei ihre perfekt gestreckten Füße dicht an meinem Gesicht vorbeiflogen. Weil sie es im richtigen Winkel gesprungen war, hatte ich nur den Luftzug und keinen kräftigen Tritt gegen meinen Unterkiefer gespürt. »Siehst du? Ich habe dich nicht getreten!«
Ich nickte eifrig, obwohl ich mein Leben gerade buchstäblich vor meinem inneren Auge vorbeiziehen gesehen hatte. »Wenn du das jetzt versuchen würdest, würdest du mich umbringen«, erklärte sie grinsend. »Wenn ich ›Schultern zurück‹ sage, meine ich das auch!«
Erin schaffte es in jenem Jahr nicht, meinen Rückwärtsüberschlag zu korrigieren, und das Problem lag eindeutig auf meiner Seite. Was sie jedoch erreichte, war noch viel wichtiger. Sie zeigte mir, wie ein guter Trainer in die nächste Generation investiert. Für Erin waren wir nicht nur Fähigkeiten und Ergebnisse, wir waren Menschen mit Herzen, Gedanken, Körpern und Seelen, die geformt werden wollten. Sie interessierte sich für uns, für die Entwicklung unserer Persönlichkeit und dafür, wer wir sein würden, wenn wir die Turnhalle verließen.
»Was ihr hier lernt, wird euch euer ganzes Leben begleiten«, sagte sie.
Und sie hatte recht. Mit ihren Worten und ihrem guten Beispiel brachte sie uns Dinge bei, die uns, bis der Sommer vorüber war, zu besseren Menschen gemacht hatten. Sie lehrte uns, wie wichtig es war, in jeden Einzelnen zu investieren und nicht nur in diejenigen, die vielleicht später die öffentliche Aufmerksamkeit erregen würden. Sie ermutigte uns, uns über die Erfolge unserer harten Arbeit zu freuen, über jede gut ausgeführte Übung. Und vor allem lehrte sie uns die kraftvolle Wahrheit, dass die Liebe die größte Motivation ist, die man haben kann. Wir alle blühten in jenem Sommer auf, weil unsere Herzen, Gedanken, Körper und Seelen sicher waren. Wir arbeiteten noch härter an unseren Fertigkeiten und Einstellungen, weil wir geschätzt wurden. Und wir lernten, Fleiß, Ausdauer, Konzentration und eine gute Arbeitsmoral auf eine Art und Weise kennen, wie wir es vorher nie erlebt hatten.
Die Trainer, die ihre Turnerinnen benutzten, um Erfolg zu haben, zogen vielleicht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Aber sie ließen leere Hüllen von kleinen Mädchen zurück, deren Körper und Gefühle so verletzt waren, dass manche von ihnen nie ganz wieder heil werden würden. Erin wurde nie zu einer berühmten Trainerin, aber sie und unser Vereinsleiter taten in jener winzigen Halle in Kalamazoo, Michigan, mehr Gutes, als die berühmtesten Trainer es je tun würden – Trainer, die in hochmodernen Komplexen arbeiteten und sich mit Trophäen schmückten, die mit dem Blut, dem Schweiß und den Tränen kleiner Mädchen erkauft worden waren.
Dank des intensiven und gründlichen Konditions- und Techniktrainings unseres Trainers war die Verletzungsrate bei uns sehr niedrig. Aber selbst das reichte nicht, um mich ganz davor zu schützen. In jenem Sommer wurden die Schmerzen in meinen Handgelenken und meinem Rücken immer schlimmer. Kurzum: ich war nicht fürs Turnen gemacht. Ich hatte einen zu langen Oberkörper und ungelenkige Schultern, zudem hatte ich viel zu spät mit dem Sport angefangen. Mein Körper war schlichtweg abgekämpft von den ständigen Belastungen. Als es so schlimm wurde, dass ich morgens mit einem tauben Bein und einem ausstrahlenden Ischiasschmerz aufwachte, verschwendete meine Mutter keine Zeit mehr und brachte mich sofort zum Arzt.
Kurze Zeit später saß ich auf dem zerknitterten weißen Papier einer Arztliege, glücklicherweise hatten wir einen Termin in einer der bekanntesten sportmedizinischen Kliniken der Region bekommen. Doch dieser Tag sollte einer der am meisten frustrierenden meiner Turnkarriere werden. Nicht unfreundlich, aber forsch und sehr geschäftsmäßig marschierte der Arzt herein. Es war offensichtlich, dass er andere Dinge zu tun hatte. Er stellte sich vor, schüttelte meiner Mutter und mir kurz die Hand und fragte: »Also, wo liegt das Problem?«
Ich erzählte von den Schmerzen im Rücken und den Handgelenken, wies auf die Stellen an den Daumen, die oft taub waren, und zeigte ihm, bei welchen Bewegungen die Schmerzen schlimmer wurden.
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