Der Mensch hat einen seelischen Selbstschutzmechanismus. Die Steuerungszentrale im Gehirn schirmt im Moment des Erlebens das Bewusstsein gegen den Stress ab. Aber das Trauma ist nur verkapselt. Im Alter wird das hemmende Netzwerk löchrig. Die Kapsel bricht auf. Man wird mental um Jahrzehnte zurückgeworfen. Ich frage mich, was da noch an posttraumatischem Stress auf mich zukommt. Denn Tripolis ist nicht der einzige Stress-Cluster in meinem Unterbewusstsein.
Ich bin der Spiegel -Reisestelle heute noch zu Dank verpflichtet, weil sie meine teuren Extravaganzen kommentarlos hinnahm. Wenn Wiedemann lieber sieben Stunden Auto fährt, als eine Stunde zu fliegen, wird er wohl seine Gründe haben, hat sich die Kollegin sicherlich gedacht.
In Kolumbien hätte ich Grund zur Angst vor Kidnappern gehabt. Aber da war ich furchtlos – weil ich die Gefahr nicht erkannte. Ich war den Tag über durch die Slums von Bogotá gezogen, um für eine Geschichte über Zwangsprostitution mit Nutten zu sprechen. Die Damen in den kleinen Hütten, die so aussahen wie früher die Bergmannshäuser in meiner Ruhrpottheimat, waren ziemlich wortkarg. Die Recherche war nicht besonders erfolgreich, weil ich meinen Dolmetscher verpasst hatte. Die Damen verstanden nur wenig Englisch, und ich verstand nur wenig Spanisch.
Mädchenhandel und Bordellgewerbe sind in Kolumbien in der Hand der Kartelle, die auch den Drogenhandel und das organisierte Kidnapping kontrollieren. In Bogotá wurden damals 500 Entführungen im Jahr gemeldet.
Am nächsten Tag war ich zum Antrittsbesuch in der deutschen Botschaft. Der Presseattaché sagte in nur einem Satz, wie er mich einschätzte, als ich ihm von meinen Spaziergängen in den Slums erzählte: »Sie sind ein Kamikaze oder ein Trottel.«
In Deutschland war ich vorsichtiger als in Kolumbien. Dass ich in Deutschland nie im Gefängnis war, habe ich meinem angeborenen Misstrauen zu verdanken.
Ich war in den siebziger Jahren in eine Fluchthilfe-Affäre hineingezogen worden. Ich wollte live über eine Fluchtaktion berichten. Ein gewisser Pfitzmann von der Berliner Fluchthilfefirma Freedom International hatte mir versprochen, mir Bescheid zu geben, wenn sie den nächsten Kunden im Kofferraum in den Westen schafften. Der Tipp kam, ich wartete nachts vier Stunden lang am Zonengrenzübergang in Lauenburg, aber die Flüchtlinge kamen nicht. Irgendwas hätte nicht geklappt, sagte mir Pfitzmann am Telefon. Er würde sich wieder melden. Dann hörte ich nichts mehr von ihm.
Zwei Wochen später stand in einer Berliner Zeitung, am Grenzübergang in Helmstedt seien ein professioneller Fluchthelfer von Freedom International und zwei im Auto versteckte DDR-Bürger festgenommen worden. Die Flüchtlinge hätten ausgesagt, die Firma arbeite eng mit einem Mann aus Hamburg zusammen. Es war klar, Pfitzmann hatte den Flüchtlingen vorgelogen, ich sei sein Kontaktmann im Westen. Und die Flüchtlinge hatten das natürlich im Verhör bei der Stasi weitererzählt.
Bis zur Wende hatte ich Angst, mit dem Auto durch die DDR zu fahren. Und das war gut so. Obwohl der damalige DDR-Korrespondent des Spiegel sich über meine Bangbüxigkeit lustig machte, reiste ich immer nur per Flugzeug nach Berlin. Ich wäre unweigerlich wegen Menschenhandels vor Gericht gekommen, wenn die Vopo mich gegriffen hätte. Darauf standen acht bis zehn Jahre Bautzen.
Die DDR ließ politische Häftlinge nach der Verurteilung immer erst zwei, drei Jahre schmoren. Dann wurden sie an die Bundesrepublik verkauft. Es waren halbseidene Geschäfte, die nicht mit dem Grundgesetz und mit den Richtlinien des Bundesrechungshofes in Einklang gebracht werden konnten. Aber die Regelbrüche waren die einzige Hoffnung der gequälten Kreaturen, die der Stasi in die Fänge geraten waren. Ohne die Intervention der Bonner Regierung wäre mein libysches Abenteuer wohl auch nicht so gut ausgegangen.
Das Auswärtige Amt hatte von meinem Missgeschick erfahren, weil der libysche Innenminister am Tag nach meiner Verhaftung mit Bonn telefoniert und seinen Kollegen Gerhart Baum gefragt hatte: »Habt ihr uns diesen Kerl auf den Hals geschickt, der hinter Amin herschnüffelt?« Um Gottes Willen, hatte Baum gesagt. Niemals.
Es kostete Baum einen Anruf bei der Botschaft in Tripolis, um den Gefangenen zu identifizieren. Dann rief er die Spiegel -Chefredaktion an: Ob sie das Indianerspielen nicht lassen können? Das Verhältnis zu den Arabern sei kompliziert genug.
Meine Befreiung war das Resultat einer konzertierten Aktion von Gerhart Baum und seinem libyschen Kollegen gewesen. Sie hatten sich über eine Affäre kennengelernt, die die politisch nicht ganz korrekte Ausbildung von libyschen Polizisten beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden ausgelöst hatte.
Baum hatte, wie erst viel später bekannt wurde, Gaddafi sogar heimlich in Tripolis besucht, um mit ihm über die Einstellung der libyschen Hilfe für europäische »Befreiungsbewegungen« zu verhandeln. Der Kontakt, so sagte er im April 2008 der FAZ , sei sehr eng geblieben. Die bundesdeutsche und die libysche Regierung hatten jahrzehntelang Beziehungen, von denen die westdeutsche Öffentlichkeit nichts wusste. Es sei »ein Geben und Nehmen« gewesen, sagte Gerhart Baum. Unter die Rubrik »Nehmen« fiel meine Freilassung.
Gerhart Baum hatte, wie die meisten hochrangigen Liberalen, ein gutes Verhältnis zu Rudolf Augstein. Davon habe ich profitiert. Die FDP wurde zwar vom Spiegel gelegentlich geprügelt, aber Augstein hat sie zeitlebens gehätschelt, mit finanziellen Zuwendungen und mit freundlichen Spiegel -Geschichten, die sie nicht immer verdient hatte. Zum Dank war bei größeren Festen im Spiegel -Haus immer ein prominenter Liberaler anwesend, meistens Hans-Dietrich Genscher im gelben Pullunder.
Bei Gerhart Baum habe ich mich mit einem artigen Brief für die freundliche Hilfe bedankt. Ich würde mich revanchieren, wenn sich eine Gelegenheit böte, schrieb ich. Und ich wäre im Grunde meines Herzens auch ein Liberaler. Er antwortete sinngemäß: »Gern geschehen. Wenn Sie was Gutes tun wollen und wenn Sie wirklich ein Liberaler sind, dann treten Sie in die FDP ein. Wir brauchen Mitglieder.«
Das habe ich getan. Es war der Start einer bescheidenen Kommunalpolitikerkarriere. 27 Jahre lang war ich Ratsherr im Gemeinderat von Jesteburg und zehn Jahre lang stellvertretender Vorsitzender der liberalen Kreistagsfraktion im Landkreis Harburg, einmal auch FDP-Bundestagskandidat (mit schlechtem Listenplatz und mäßigem Ergebnis) und zwei Jahre lang Vizebürgermeister von Jesteburg. Die Bürde meiner Würden wäre geringer gewesen, wenn die Heidjer Liberalen nicht so knapp an Talenten gewesen wären, dass sie einen verbiesterten Ikonoklasten wie mich immer wieder in die Arena schicken mussten.
Die Kommunalpolitik war ein gutes Kontrastprogramm zu meinem Spiegel -Job. Einmal kam ich um kurz vor sechs Uhr abends aus Afghanistan in Hamburg-Fuhlsbüttel an und saß dann um kurz nach sieben im Jesteburger Gemeinderat, um über Bebauungspläne und die Anschaffung eines Rasenkantenmähers für den Bauhof zu beraten.
Die FDP hat mir nicht viel zu verdanken und ich ihr auch nicht. Mein Vorbild war FDP-Mitglied Rudolf Augstein. Er war im Gegensatz zu mir immerhin in den Bundestag gewählt worden. Nur dass er die Epauletten schon ein paar Wochen danach wieder abgab, weil er begriffen hatte, dass man nicht mit einem Bein im Lager der dritten und mit dem anderen im Lager der vierten Gewalt stehen kann.
Die Jesteburger Kommunalpolitik barg für mich keine Interessenkonflikte, weil die kleine Welt der Nordheide keine Berührungspunkte zu meiner beruflichen Welt hatte. Im Jesteburger Gemeinderat habe ich mich zu morganatischen Allianzen hinreißen lassen. Von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen, waren stets die Roten und die Grünen meine Verbündeten im Kampf gegen die schwarzen Grundstückschacherer. Solche Bündnisse wären mir im Spiegel nicht zugestoßen – wenn es da Schwarze gegeben hätte.
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