Erich Loest - Swallow, mein wackerer Mustang

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„Ich möchte nach Dresden fahren zu meinem Verleger.“ – „Warum nicht, wenn Sie sich gut führen, für einen Tag mit Erlaubnis ihrer Polizeibehörde? Es liegt nur an Ihnen, was aus Ihnen wird!“ Erich Loests biographischer Roman über seinen sächsischen Landsmann und Schriftstellerkollegen Karl May ist ein Bekenntnis zur Freiheit der Literatur. Der ehemalige politische Gefangene Loest schreibt darin über einen Autor, den seine Zeit und seine Gesellschaft zum Kriminellen abstempeln wollten. Mit großem Einfühlungsvermögen entwirft Loest das spannende Porträt eines widersprüchlichen Lebens. Der Roman erschien 1980, ein Jahr vor Loests Übersiedlung in die Bundesrepublik, und leitete mit die May-Renaissance in der DDR ein. Zum 100. Todestag von Karl May 2012 veranstaltete der Mitteldeutsche Verlag diese Neuauflage.

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Erich Loest

Swallow,

mein wackerer Mustang

Karl-May-Roman

mitteldeutscher verlag

Erich Loest, geb. 1926 in Mittweida/​Sachsen, 1944/​45 Kriegsdienst, 1947 – 1950 Volontär und Redakteur bei der Leipziger Volkszeitung, ab 1950 freischaffender Schriftsteller, 1957 Ausschluss aus der SED, Verurteilung zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus aus politischen Gründen, nach Entlassung wieder als Schriftsteller tätig, 1979 Austritt aus dem Schriftstellerverband aus Protest gegen Zensur, 1981 Ausreise in die Bundesrepublik, 1994 – 1997 Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schriftsteller. Loest lebt in Leipzig, wo er 1996 Ehrenbürger wurde.

Im Mitteldeutschen Verlag sind u. a. erhältlich: »Völkerschlachtdenkmal«, »Der Zorn des Schafes«, »Reichsgericht«, »Fallhöhe«, »Bauchschüsse«, »Nikolaikirche«, »Gute Genossen« und »Es geht seinen Gang«. Weitere Titel unter www.mitteldeutscherverlag.de.

2012

© mdvMitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung

des Linden-Verlags, Leipzig

© Linden-Verlag, Leipzig 1996

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

Umschlagabbildungen: Pferdesilhouette (Fotolia.com – ironflame)

Porträt Karl May, 1907, Ausschnitt (Foto: Erwin Raupp)

ISBN 978-3-95462-724-0

1. Kapitel: Waldheim

1

»Zum wievieltenmal sind Sie inhaftiert?«

»Zum drittenmal, Herr Direktor.«

»Waren’s nicht fünf?«

»Eigentlich …«

Der Direktor winkt ab, er mag diese Halbintellektuellen nicht, diese vor Ehrgeiz Zitternden, Kränklichen, zu kurz Gekommenen. Ein Wunder, daß den Züchtling 402 noch nicht die Schwindsucht weggeleckt hat. Dieser Direktor kann mit den stupidesten Burschen fertig werden, mit Straßenräubern noch am besten, die heilfroh sind, daß das Beil sie verschont hat, die ein halbes Jahr lang wie die Hündchen kuschen, wenn sie mal wieder die Kugel am Bein gespürt haben. Aber der? »Sie sind zweimal ordnungsgemäß entlassen worden?«

»Ordnungsgemäß, Herr Direktor.«

»Und wievielmal sind Sie ausgebrochen?«

»Nie, Herr Direktor.«

May hat die Fingerspitzen an die Drillichhose gepreßt, er starrt auf die Hände des Direktors, die Papier auffalten; ein Zucken vom Mundwinkel in die Oberlippe signalisiert ihm seine Furcht. Ausgebrochen, da hat ihn also einer verpfiffen, wer, wenn nicht Prott. Der hat nie genug hören können; ohne Protts Bohren hätte er sich diese Geschichte nicht ausgedacht vom Ausbruch aus Prags sicherstem Verlies, als sie einen Wärter als Geisel mitschleppten, gefesselt und geknebelt, abgeseilt eine Mauer hinunter und durch einen Graben und einen Wall hinauf, und der Doppelposten auf einem Turm hatte nicht zu schießen gewagt. Drüben standen Pferde bereit, tolle Pferde, sag ich euch! Die Ausbrecher warfen den Wärter über einen Pferderücken und sprengten durch nachtdunkle Straßen, Fackeln wurden ihnen in den Weg geschleudert, unversehens waren die Felder weit und die Sterne hoch, kalt blies der Nachtwind. In einem Dickicht machten sie halt, Freunde hatten auf sie gewartet, einer wollte den Wärter erdolchen, aber er, May, warf sich dem Kumpan in den Arm.

»Waren Sie in Prag im Gefängnis?«

Also wirklich Prott, der immer wieder gefragt hat: und? Dieses Und hat die Geschichte weiterfließen lassen durch Nächte und Tage und Wälder und Schenken nach Bayern hinüber, bis zu einer Bauerntochter in einer Scheune, aber da hat Prott umsonst gefragt: und?

»Haben Sie nicht verstanden?«

»Ich saß nie in Prag im Gefängnis.«

»Wir werden nachforschen.« Ein Narr, davon geht der Direktor aus, ein Schulmeisterlein, hirnkrank schon in jungen Jahren. »Wo haben Sie gelernt, mit Pferden umzugehen?«

»Als Junge, beim Nachbarn.«

»Ackergäule?«

May drückt die Fingerspitzen an die Hose, er möchte um Himmels willen nichts verderben, er kennt den Karzer mit seinen nassen Mauern. »Ja, Ackergäule.« Er zwingt sich, dem Direktor in die Augen zu sehen, da wird er eher die Wahrheit herauspressen, da kann er vielleicht auflachend sagen: Dem Prott hab ich einen Bären aufgebunden, der schluckt doch alles, und was soll einer reden die ganze Zeit? Die Augen des Direktors bleiben starr hinter den Zwickergläsern, wenigstens wirken sie nicht gierig auf neue unerhörte Begebenheiten.

»Ich hab nie reiten gelernt.« Die Hände lösen sich vom Hosenstoff, er hüstelt, die Lippe zuckt, endlich öffnet sich der Mund zu einem gnadesuchenden Lächeln. »Bin nie ausgebrochen, Herr Direktor, auch in Prag nicht.«

»Natürlich bist du nie ausgebrochen.« Der Direktor blättert in einer Mappe. Ein Betrüger, ein Dieb ist 402, kein Gewaltverbrecher. Einmal hat er Verfolger mit einem ungeladenen Terzerol bedroht, einmal hat er sich von einem Wächter losgerissen und ist über Felder davongerannt. Das paßt nicht ins übrige Bild. Der Direktor hat erfahren, daß es in der buntscheckigen Schar seiner Häftlinge sogar solche gibt, die anderen das schwerere Delikt und die härtere Strafe aus Ganovenehre heraus mißgönnen. Nicht so 402, der schneidet nur auf. »Wie war das, als du geflüchtet bist, damals bei Werdau?«

Jetzt stößt May die Hände vor, begegnet dem mißbilligenden Blick des Direktors, läßt sie sinken, birgt sie auf dem Rücken und preßt eine Hand mit der anderen fest. »Eine Rast, wir waren zu einem Lokaltermin unterwegs.«

»Zu einem Ort, an dem du die Leute betrogen hast, May. Wie hattest du dich dort genannt?«

»Polizeileutnant von Wolframsdorf.«

»Nicht etwa Doktor der Medizin Heilig?«

»Das war andermal.« Er muß die Hände ineinanderkrampfen, damit sie nicht wieder vorrucken. »Eine Rast am Mittag zwischen zwei Dörfern. Wir saßen am Straßenrand, der Wachtmeister schnitt Brot ab und gab auch mir ein Stück, ich konnte es schwer halten wegen der Brezel, in der meine Hände steckten.«

»Eine eiserne Brezel, und du hast sie zerbrochen.«

»Es war schlechtes Eisen.«

Die Stimme des Direktors wird höhnisch. »Aber wir in Waldheim haben prachtvolles Eisen vor den Fenstern, daß du’s weißt! Und weiter?«

»Ich hab Felder gesehen und eine Lerche gehört, ich dachte an das Zuchthaus Osterstein in Zwickau und die Jahre darin. Plötzlich hatte ich Angst, ich würde sterben, müßte ich noch einmal hinein. So bin ich losgerannt«

»Und dem Wärter hast du einen Stoß versetzt.«

»Unabsichtlich, nur so beim Aufspringen.«

»Und bist bis nach Böhmen gekommen. Aber sie haben dich geschnappt und rausgefunden, wer du bist. Wie hast du dich doch genannt?«

»Albin Wadenbach.«

»Und hast behauptet, du besäßest auf der Insel Martinique eine Plantage und reistest durch Europa, um Verwandte zu besuchen. Ein Plantagenbesitzer nächtigt in einem Heuschober!« Der Direktor sieht, daß May sich verfärbt hat: bleich, schweißig ist seine Haut. »Das hörst du nicht gern?«

Schwäche überkommt May, die diese furchtbaren Namen wegdrängt, Doktor Heilig, Notenstecher Hermin, Polizeileutnant von Wolframsdorf, Geheimrat – wie doch gleich in Ponitz, als er fliehen mußte und das Terzerol zog? Böse Geister waren über ihm, aber er macht ihre Kraft zunichte, wenn er diese Namen auslöscht. Der Direktor hat die Geister zu neuem Leben erweckt, indem er ihre Namen nannte, Namen aus der schrecklichen Zeit, in der die Dämonen ihn trieben, peitschten. Er selbst war es nicht, der sich als Dr. Heilig in einem Kleidermagazin in Penig ausstaffieren ließ und den Händler prellte, der als Notenstecher Hermin am Thomaskirchhof 12 in Leipzig einen Pelz zur Ansicht übernahm, mit ihm verschwand und der im Rosental überwältigt wurde. Geister hatten ihn in der Gewalt. Er will sagen: Das war ein anderes, mein schlechtes Ich, aber jetzt, hier in Waldheim, verblassen die Geister der Vergangenheit, ich vertreibe sie, ich will anständig, gütig sein. Die Felder und die Lerche, sie standen auf der Lichtseite, ich bin auf sie zugelaufen. Herr Direktor, ich war, ich will – aber seine Lippen öffnen sich nicht.

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