Erich Loest - Sommergewitter

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Ein großer Roman über den Volksaufstand 1953
Mit »Sommergewitter« aus dem Jahr 2005 widmet Erich Loest dem Volksaufstand von 1953 einen großen und den ersten überzeugend realistischen Roman. Er schildert die Schicksale unterschiedlichster Menschen während des 17. Juni. Er erzählt von Mutigen und Mitläufern, Nachdenklichen und Nachbetern. Sie geraten mitten hinein in die Ereignisse dieses historischen Tages, an dem eine unbedachte Äußerung, eine leichtsinnige Unterschrift, ein übermütiger Auftritt über Knast oder Karriere entscheidet. Nach »Swallow, mein wackerer Mustang«, »Jungen die übrigblieben«, »Durch die Erde ein Riss« und »Der elfte Mann« ist »Sommergewitter« der fünfte Band der Loest-Werkausgabe als Taschenbuch im Mitteldeutschen Verlag.

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Erich Loest wurde 1926 im sächsischen Mittweida geboren Seinem Romandebüt - фото 1

Erich Loest wurde 1926 im sächsischen Mittweida geboren. Seinem Romandebüt »Jungen die übrigblieben« (1950) folgten zahlreiche weitere Werke, darunter die bekanntesten wie »Es geht seinen Gang« (1977) sowie die Leipzig-Romane »Völkerschlachtdenkmal« (1984) und »Nikolaikirche« (1995). Letzterer wurde im gleichen Jahr von Frank Beyer verfilmt. 1981 verließ Loest die DDR und kehrte 1990 nach Leipzig zurück, nachdem er im Jahr zuvor seine Autobiographie »Durch die Erde ein Riß« veröffentlicht hatte. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er u. a. den Hans-Fallada-Preis, den Marburger Literaturpreis, zweimal den Jakob-Kaiser-Preis, 2009 den Deutschen Nationalpreis sowie den Kulturgroschen 2010 des Deutschen Kulturrates. Im September 2013 suchte der 87-Jährige den Freitod.

Der Verlag dankt der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig für die freundliche - фото 2

Der Verlag dankt der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig für die freundliche Unterstützung.

1. Auflage

© 2021 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Linden-Verlags, Leipzig

© Linden-Verlag, Leipzig 2005

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagabbildung: Der hallische Marktplatz am 17. Juni 1953,

Foto: Stadtarchivar Werner Piechocki (Quelle: Stadtarchiv Halle)

ISBN 978-3-96311-520-2

Inhalt

Der Tod des weisen Führers

Bremsspuren

Gewitterböe

Nicht provozieren lassen!

»Der Spitzbart muß weg!«

Auf der Kippe

Panzer, Panzer

Deutschlandlied

Aus der Traum

Arbeiterwürde

Kuhhandel

Beim nächsten Mal klappt’s

Nachwort

Zu dieser Ausgabe

Der Tod des weisen Führers

1

Der Teller, fast eine Platte, war bis über den Rand bepackt mit drei Scheiben Blutwurst, in ihnen rötliche Streifen von Zunge, zwei Stück Leberwurst, einer kleinen, scharf geräucherten Knackwurst, zwei Gürkchen, vier Quadraten Schnittkäse und einem Würfel Butter, den Mannschatz auf knapp fünfzig Gramm schätzte. Es war tatsächlich Butter und keine Margarine, das merkte er beim Streichen und dem ersten Bissen, den die Zunge drehte und wendete, gegen den Gaumen drückte, durchspeichelte, dem alle Geschmacksnerven überrascht beizukommen suchten und die ans Gehirn meldeten: Genuß, Hochgenuß, Mann, wann hast du zum letzten Mal derartig duftige Knacker zwischen die Kiemen gequetscht, zur Hälfte Speckbrocken, und dir bleiben noch dreißig, vierzig Bissen. Nun Leberwurst kosten, Lebenswurst hatte sie ein Kumpel in der Gefangenschaft gepriesen. In der Mitte des Tischs, an dem sie zu sechst saßen, waren Brotscheiben getürmt, pro Nase nicht weniger als acht; hoffentlich führte sich keiner unverschämt auf. Schüsseln mit Kartoffelsalat, für jeden eine Flasche Bier – der Genosse ihm gegenüber fand den treffenden Ausdruck: Total friedensmäßig! Mannschatz richtete schon die zweite Scheibe her, während er noch an der ersten kaute. Er überlegte, wann er sich zum letzten Mal ähnlich üppig hatte vollschlagen können, in Rußland organisierten sie zwei Schweine für dreißig Mann, hatten aber weder Brot noch Kartoffeln und mampften wochenlang Makkaroni – Völlerei und Barbarei in einem. Jetzt paßte alles zueinander, höchstens Senf fehlte zur Blutwurst, aber schon dieser Gedanke grenzte an Meckerei. Behaglichkeit überkam ihn, er ließ Bier einlaufen und hatte vergessen, daß man dabei das Glas schief halten muß; gerade noch rechtzeitig schlürfte er Schaum ab. Als auf seinem Teller ein wenig Platz geworden war, hob er Kartoffelsalat in die Lücke und reichte die Schüssel weiter, schmeckte Zwiebel, Möhre auch und mahnte sich zur Vorsicht: Mayonnaise konnte steinern im Magen liegen. Rascher, peinigender Gedanke: Bloß nicht alles rauskotzen müssen. Ihm gegenüber saß einer mit Schlips und grobkariertem Jackett, hell die Augen über freundlichen Grübchen, und Mannschatz wunderte sich beim Aufblicken: Der Genosse belegte geruhsam eine Scheibe Brot mit Schnittkäse und bedeckte sie mit einer anderen. Kaute nicht, und sein Teller war fast leer.

Er komme aus Eisleben. Ein gebeugter Glatzkopf von sicherlich achtzig Jahren fragte: Und ihr? Aus Bitterfeld, antwortete Mannschatz und hörte: Leuna, Halle, Wolfen. Der Alte fragte: Alle bei der Märzaktion dabei gewesen?

Nö. Der Nette mit den hellen Augen packte die vierte Doppelschnitte neben den Teller. Dafür sei er zu jung. 1933 im KZ Colditz. Mannschatz überschlug die Zahl der Genossen im Saal auf fast hundert, meist Sechziger und Siebziger, wenige Dreißig- bis Vierzigjährige, das waren vermutlich Funktionäre der Bezirksleitung oder verschiedener Kreisleitungen, dazu drei Frauen, wahrscheinlich Sekretärinnen.

Genossen, rief ein sportlicher Blondschopf am Präsidiumstisch, breit waren die Revers seines Anzugs und bretteben von reichlichem Steifleinen. Er wünsche strammen proletarischen Appetit und wolle, ehe er Horst Sindermann das Wort erteile, noch einige organisatorische Bemerkungen loswerden: Die Genossen Fahrer seien im Erdgeschoß im Raum neun untergebracht, Reisekosten könnten in Raum elf abgerechnet werden. Wer eine Übernachtung brauche, solle sich im Orgbüro melden. Genosse Otto Gotsche, der allen bekannte berühmte Schriftsteller, habe von Berlin angerufen, er sei leider verhindert und wünsche der Tagung den besten Erfolg. Jetzt also ein Begrüßungswort des Genossen Horst Sindermann.

Jede Silbe klang gewichtig. Im Namen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands des Bezirks Halle, als Chefredakteur der »Freiheit« und Leitungsmitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes begrüße er verdiente und bewährte Kämpfer. Als vor Wochen diese Tagung anberaumt worden sei, habe niemand voraussehen können, welche Wolken unterdessen die Welt verdüsterten. Alle heißen Wünsche richteten sich nach Moskau. Trotz bohrenden Schmerzes müsse die Arbeit weitergehen, das sei gewiß auch im Sinne des Genius, für den alle hier im Saal baldige Genesung ersehnten. Bisweilen scheine es, als ob kein Wind wehen und kein Vogel singen dürfe. Bert Brecht habe gedichtet, wie kasachische Bauern Lenin ehrten, indem sie einen Kanal gruben für Wasser und Leben. In diesem Sinne begreife er alles heutige Tun. Er heiße folglich eine Reihe Kämpfer gegen den Faschismus von der Revolution 1918 an über die Abwehr des Kapp-Putsches und die Märzaktion 1921 bis zum Widerstand in den Konzentrationslagern herzlich willkommen. Beifall pladderte prompt.

Alfred Mannschatz hatte Sindermann auf Kundgebungen gehört, hoch oben und weit weg. Ein Bündel von Gesundheit und Energie, erstaunlich, wie er mit zehn Jahren KZ fertig geworden war; als Achtzehnjährigen hatten ihn die Nazis eingesperrt. Eine seiner berühmten Aktionen: Am 1. Mai 1933 hißte er auf einem Fabrikschornstein in Chemnitz die rote Fahne und brachte unten einen Zettel an: »Vorsicht, vermint!« Dunkel war die Stimme, beinahe dialektfrei, in Mitteldeutschland selten. Da sehe er den Genossen Bruno Pfefferkorn, 1921 Stoßtruppführer in der Arbeiterwehr von Mansfeld. Bruno mit der Zündschnur, der gelegentlich eine Fabrikantenvilla flach legte, weil die angreifenden Kämpfer einen Rauchvorhang brauchten. Alle Blicke richteten sich auf einen untersetzten Mann mit rundlichem Gesicht und braunen Knopfaugen, der nun lächelte, wobei sich sein Gesichtsausdruck von hart und verbissen zu verschmitzt wandelte. »Wenn wir nachts ruhig schlafen können, was durchaus nicht im Sinne von allerhand Spionage- und Diversantengesindel ist, dann danken wir das dem Genossen Pfefferkorn.«

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