Eine einzige Aufforderung: Leute, kauft, kauft, kauft!
Ein leichter Nieselregen verdirbt mir meinen Schaufensterbummel. Der Wind, der durch die Gassen zieht, ist eisig und schmerzt, auch wenn ich meinen Schal ins Gesicht ziehe. Die Menschen gehen zielstrebig und mit angestrengten Mienen ihren Weg. Ein Straßenmusiker haucht in seine gefrorenen Hände, nimmt dann die Gitarre und spielt und singt unerschrocken weiter. Seine rote Nase läuft.
Im Buchhaus Stocker ist es warm und trocken. In der Luft liegt ein klebriger Soundteppich mit Weihnachtsmusik. Trotzdem fühle ich mich wohl. Bücher begeistern mich. Paul ist genauso.
Ich versuche, mich auf Pauls Wunschliste zu konzentrieren, denn überall lachen mich Bücher an, die mich interessieren würden. Aber weil ich mit dem Zug nach Luzern gekommen bin, ist es mir nicht möglich, beliebig viele Bücher heimzuschleppen. Ich kaufe also diszipliniert ein, belasse es weitgehend beim Durchblättern und Bestaunen der Bücherpracht und mache mich dann auf den Heimweg.
Noch 16 Tage bis zum Weltuntergang.
Da ich nicht wirklich damit rechne, packe ich Geschenke ein und bereite mich auf die Zeit danach vor: Weihnachten. Ich bin nicht sonderlich begabt im Umgang mit Glanzpapier und Schleifchen. Immerhin muss ich für Paul nur Bücher einpacken.
»Bücher, Bücher, Bücher …«, spottet Lilly, die gerade vom Training heimkommt und auf dem voll belegten Küchentisch eine Ecke sucht für ihren Tee und eine Banane. »Papa könnte doch auch langsam in der Neuzeit ankommen und sich einen Reader anschaffen.«
»Könnte er«, antworte ich, »muss er aber nicht.«
Ich mag es, Bücher anzufassen, anzuschauen, ja sogar zu riechen. Ich kann Paul verstehen.
»Was wünschst du dir eigentlich?«, fragt Lilly mich, nicht zum ersten Mal.
Soll ich ihr sagen, dass ich mir den Januar wünsche, und zwar sofort?
»Einen cremigen Badezusatz, die neue CD von Nena und die von Celine Dion …« Mehr fällt mir gerade nicht ein. »Ich bin doch wirklich kein schwieriger Fall«, lache ich Lilly aus. »Ich wüsste dafür gern, was man Irene schenken könnte.«
Lilly denkt kurz nach und erklärt dann: »Ich habe neulich gesehen, dass ihre Bratpfanne total zerkratzt ist. Das ist mega-ungesund. Wieso schenkst du ihr nicht eine neue?«
Ein Lächeln erhellt mein Gesicht. Ein breites, zufriedenes Lächeln.
Eine Bratpfanne!
Da wird sich meine Schwiegermutter bestimmt freuen!
Lilly beobachtet mich schweigend eine Weile beim Einpacken und meint dann: »Mama, du verwendest das hässlichste Geschenkpapier weit und breit.«
Stimmt.
Ich kann einfach nicht anders.
Wenn ich beim Einkaufen vor dem Regal mit dem Packpapier stehe und den ganzen grässlichen Kitsch sehe, greife ich immer in die Vollen. Wenn schon, denn schon.
»Was ist an diesen Engeln mit Harfen nicht in Ordnung? Und an den kleinen Hunden mit den großen Schleifen um den Hals?«, frage ich mit unschuldigem Blick.
Lilly schüttelt nur den Kopf über mich.
»Du weißt, Mama, dass wir seit zehn Jahren den gleichen Weihnachtswunsch haben, Amelie und ich, und ihr diesen jedes Jahr aufs Neue ignoriert? Nur, damit es nicht irgendwann heißt, wir hätte nie mehr was gesagt.«
Gut, das Geschenkpapier mit den Hunden hätte ich vielleicht nicht kaufen sollen …
»Lilly, bitte, nicht wieder dieses Thema. Sobald ihr eine eigene Wohnung habt, könnt ihr euch tausend Tiere anschaffen. Und glaub mir, das wird bald sein.«
»Du nimmst mich nicht ernst.«
Dieser Satz musste ja kommen.
Stimmt. Ihren Wunsch nach einem Hund will ich nicht ernst nehmen. Wer sollte denn auf das Tier aufpassen, wenn Paul und ich arbeiten und die beiden in der Schule sind? Und an wem würde die Arbeit hängen bleiben, die ein Tier macht, wenn die erste Begeisterung verflogen ist? Ich bin so froh, dass Paul über Hunde denkt wie ich: Kommt nicht infrage!
Wir haben ja schon einen Wellensittich und zwei Hamster überlebt und nach vielen Dramen zu Grabe getragen. Das mit dem Wellensittich war der Hammer: Die Kinder waren auf Klassenfahrt, als er einfach von seiner Stange fiel. Also habe ich ihn begraben. Die Mädchen kamen heim, merkten nicht einmal, dass der Vogel fehlte. Sie hatten sich eh nie um ihn gekümmert und setzten immer voraus, dass ich ihn füttern und versorgen würde. Amelie und Lilly merkten erst nach einer geschlagenen Woche, dass der Vogel nicht mehr da war. Und dann kam das riesengroße Wehklagen. Paul und ich hatten allerdings nicht besonders viel Mitleid mit den Trauernden.
Auch die Hamster haben eine traurige Geschichte: Der eine wurde von einem Nachbarshund totgebissen. Er war im Garten, eingezäunt zwar, aber leider nicht zugedeckt. Der andere verschwand einfach, ebenfalls im Garten, auf Nimmerwiedersehen. Wir mussten stundenlang nach ihm suchen, und die Kinder hängten sogar Plakate auf im Viertel: Hamster vermisst. Wir bekamen zahlreiche Anrufe von Leuten, die uns zu gern ihren Hamster geschenkt hätten. Aber Paul und ich hatten genug und beschlossen: Keine Haustiere mehr!
Ja, meine Zwillinge sind manchmal unschlagbar, wenn sie zusammenhalten, aber auch Paul und ich können eine uneinnehmbare Festung bilden, wenn wir wollen.
Ich lächle in Erinnerung an all die Taktiken, die Amelie und Lilly sich ausdachten, um uns für einen Hund zu begeistern. Vor ein paar Jahren lebte fast einen Monat lang ein imaginärer Hund in unserem Heim. Irene machte sich irgendwann Sorgen und fand, man müsse diese Störung vielleicht professionell abklären lassen. Die beiden sprachen mit dem Tier, zogen es hinter sich her, spielten mit ihm. Manchmal sah ich den Hund schon selber. Aber geholfen hat ihnen das Theater nicht.
Hier ist eine hundefreie Zone.
Und ob die Mädchen sich wirklich einmal einen Hund anschaffen werden, wenn sie eine eigene Wohnung haben und damit auch selber für ihn verantwortlich sind, ganz allein, das wage ich zu bezweifeln.
Am Abend sitzt auch Irene mit am Eichentisch. Es gibt Gemüsesuppe, Brot und Käse.
»Euer Onkel Leo wird dieses Jahr leider nicht zum Weihnachtsfest aus dem Heim kommen können«, erzählt meine Schwiegermutter plötzlich.
»Oh«, sage ich nur und denke mir meinen Teil.
Amelie und Lilly grinsen. Paul löffelt ungerührt seine Suppe.
»Tu nicht so überrascht«, stichelt Irene in meine Richtung. »Du warst doch erst gerade bei ihm.«
Jetzt schauen mich alle an. Sogar Paul unterbricht sein Löffeln.
»Stimmt«, sage ich leichthin. »Er wollte mich aber nicht sehen. Er hat eine Pillendose nach mir geworfen.«
Ich hatte bisher nicht über meine Begegnung mit Leo gesprochen, wollte sie eigentlich gar nicht erwähnen. Das Problem hatte sich ja erledigt. Das reichte mir.
»Sonja? Warum warst du denn bei Onkel Leo?«, fragt Paul verwundert.
»Nun, ich wollte mit ihm über Weihnachten sprechen«, antworte ich.
»Echt?«, fragt Lilly mit großen Augen.
Sicher kann sie sich vorstellen, was ich dort wollte.
»Und er hat dir eine Pillendose an den Kopf geworfen? Krass!«, kommentiert Amelie.
»Na ja, an den Kopf nicht direkt. Er wollte, aber er hat mich nicht getroffen.«
Auch von Irene ernte ich keine Schadenfreude. Sie ist froh, dass sie nun eine Leidensgenossin hat.
»Mich mag er auch nicht mehr sehen«, erklärt sie und schüttelt verständnislos den Kopf. Sie erzählt von ihren letzten Besuchen bei Leo und seinem Zustand. Dann präsentiert sie die nächste Überraschung: »Ich muss euch noch etwas sagen: Am zweiten Adventssonntag bin ich nicht hier. Es scheint euch ja eh nicht mehr so wichtig zu sein. Eine Freundin hat mich zu einer Wochenendreise auf den Weihnachtsmarkt von München eingeladen.«
Jetzt mache auch ich große Augen. Paul hustet, weil er sich an der Suppe verschluckt hat. Die Zwillinge grinsen.
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