Es ist der 10. März 1946, die italienischen Frauen gehen zum ersten Mal wählen, als sich am Bahnhof von Florenz zwei junge Menschen begegnen. »Ich war bei den Partisanen«, sagt er zu ihr, »und ich habe niemanden mehr.«
Ende der fünfziger Jahre sind Aurora und Modesto ein kinderloses Lehrerehepaar; dem ermatteten Alltag entfliehen beide mit einer Liebschaft. Eines Tages erhält Modesto einen anonymen Brief, der einen »alten Fehler« heraufbeschwört, und ist sichtlich aus der Fassung gebracht. Erst verbarrikadiert er sich im Klassenzimmer, als man ihn nach Hause schickt, kauft er sich ein Paar Lederstiefel und tritt eine Reise in die Vergangenheit an, bei der ein Geräteschuppen in den Abruzzen, ein dressiertes Äffchen, ein Onkel im schwarzen Hemd, ein müder Gaul im Schnee, eine schallende Ohrfeige und ein anderes Paar Stiefel, das in einer Hütte auf offener Steppe den Besitzer wechselt, eine Rolle spielen.
Ruska Jorjoliani, italienische Autorin mit georgischen Wurzeln, legt in ihrem so vielschichtigen wie ironischscharfsinnigen Familienroman Spuren in die bewegte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, Spuren, die sich kreuzen, umkreisen, manchmal auch verfehlen, aber nach und nach den Boden der Gegenwart untergraben.
Ruska Jorjoliani
Roman
Aus dem Italienischen von Barbara Sauser
Das Erscheinen dieses Buchs wurde von der Fondation Jan Michalski gefördert, die Übersetzung von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.
Die Übersetzerin und der Verlag bedanken sich dafür.
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 2020 unter dem Titel Tre vivi, tre morti bei Voland Edizioni, Rom, erschienen.
© 2020 Voland srl
© 2021 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
www.editionblau.ch
Lektorat: Daniela Koch
Umschlagbild: Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorski, 1905. Photograph collection, Library of Congress, Prints and Photographs Division.
Umschlag: Patrizia Grab
eISBN 978-3-85869-932-9
1. Auflage 2021
Für Enzo, meinen zweiten Vater
»Alles geschieht, und nichts wird aufbewahrt«
JORGE LUIS BORGES
Die Spiegel
ERSTER TEIL ERSTER TEIL Späte fünfziger Jahre
Späte fünfziger Jahre
Prolog Prolog Er sah den Mann von hinten. Wie er kerzengerade über dem rauschenden Bach in der Böschung stand, sich am Stamm einer Silberweide zu schaffen machte. Ihm war sofort klar, dass es sich um seinen Vater handeln musste, denn im Traum, wie in Momenten besonderer Anspannung oder Erwartung, ist ein Vater auch allein am Rücken zu erkennen. Mit einem Messer ritzte er den Baum an und zog lange, dünne Rindenstreifen ab. Fraglos war gerade Herbst, die beste Jahreszeit für eine solche Arbeit, auch wenn der Zeitbegriff das Wegegeld ist, das man für den Eintritt in einen Traum bezahlt. Dieser Mann war schon immer davon überzeugt gewesen, dass die Silberweidenrinde eine schmerzstillende Wirkung hat, und auch der Sohn glaubte daran, schließlich glaubt jeder einem Vater, der im ersten Morgengrauen aufsteht und über einem Abgrund eine steinige Böschung hochklettert, um ein Mittel gegen Schmerzen aufzutreiben. Er hoffte, der Mann würde sich umdrehen, damit er sein Gesicht wiedersehen konnte, auch wenn von seinem Standort aus nicht viel erkennbar wäre. Nicht infrage kam, »Vater« oder gar »Papa« zu rufen. Stattdessen hatte er Lust, seinen klingenden Taufnamen herauszuschreien, sich damit wie mit einem Enterseil an seinem Rücken festzuhaken. Er konzentrierte sich also, tastete sich durch die trübe Erinnerung, doch inmitten von anderen hundert mit hundert Gesichtern verknüpften Namen wollte ihm jener seines Vaters partout nicht einfallen. Während er noch angestrengt nachdachte, brach auf einmal ein Schwarm Vögel in die Szene ein und setzte unter ohrenbetäubendem Lärm zum Sturzflug an. In einer einzigen schwarzen Welle gewölbter Flügel – spitze Schnäbel, blau gesprenkeltes Gefieder – stifteten die Vögel Unruhe, blieben in einem plötzlich aufgetauchten Netz hängen, verdunkelten den Blick auf Böschung und Vater und schreckten den Sohn aus seinem Traum auf.
1.Der Neuntöter und der Mann
2.Die Physik der alltäglichen Dinge
3.Die Metaphysik der nichtalltäglichen Dinge
4.Vier Typen ziemlich unsympathischer Männer
5.Andere sonderbare Männer
6.Der Journalist
7.Die Schauspielerin
8.Die Münzen
9.Der Wachposten
ZWEITER TEIL
Vierziger Jahre (zwischendurch auch dreißiger Jahre)
1.Der junge Mann
2.Der Vater
3.Der Onkel
4.Der Kreis
INTERMEZZO
oder
Die drei, die den anonymen Brief hätten schreiben können
1.Don Sebastiano, Verfasser religiöser Erzählungen
2.Dalmazio Tarantini, Verfasser von Briefen
3.Guerino Santoni, Verfasser eines Gedichts und der hastig notierten Zusammenfassung eines Traums
DRITTER TEIL
Späte fünfziger Jahre
1.Da wäre auch noch Aurora Giusti, die seit Kurzem Tagebuch führt
2.Derweil Guerino beziehungsweise Modesto
3.Aurora schreibt weiter
4.Der Blitz
5.Die Statue des Dichters
6.In rötlichem Gewölk
7.Die letzten Seiten des Tagebuchs von Aurora
8.Die Sendung
Dank
Späte fünfziger Jahre
Er sah den Mann von hinten. Wie er kerzengerade über dem rauschenden Bach in der Böschung stand, sich am Stamm einer Silberweide zu schaffen machte. Ihm war sofort klar, dass es sich um seinen Vater handeln musste, denn im Traum, wie in Momenten besonderer Anspannung oder Erwartung, ist ein Vater auch allein am Rücken zu erkennen.
Mit einem Messer ritzte er den Baum an und zog lange, dünne Rindenstreifen ab. Fraglos war gerade Herbst, die beste Jahreszeit für eine solche Arbeit, auch wenn der Zeitbegriff das Wegegeld ist, das man für den Eintritt in einen Traum bezahlt.
Dieser Mann war schon immer davon überzeugt gewesen, dass die Silberweidenrinde eine schmerzstillende Wirkung hat, und auch der Sohn glaubte daran, schließlich glaubt jeder einem Vater, der im ersten Morgengrauen aufsteht und über einem Abgrund eine steinige Böschung hochklettert, um ein Mittel gegen Schmerzen aufzutreiben.
Er hoffte, der Mann würde sich umdrehen, damit er sein Gesicht wiedersehen konnte, auch wenn von seinem Standort aus nicht viel erkennbar wäre. Nicht infrage kam, »Vater« oder gar »Papa« zu rufen. Stattdessen hatte er Lust, seinen klingenden Taufnamen herauszuschreien, sich damit wie mit einem Enterseil an seinem Rücken festzuhaken. Er konzentrierte sich also, tastete sich durch die trübe Erinnerung, doch inmitten von anderen hundert mit hundert Gesichtern verknüpften Namen wollte ihm jener seines Vaters partout nicht einfallen.
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