»Doch, doch, ich höre dir zu.«
Er drehte die Fotografie um. Auf der Rückseite stand in schräger, hastiger Schrift: Auch ein einziger eroberter Hügel ist ein der Barbarei entzogenes Stück Geschichte. Papa .
»Du gehst mir auf die Nerven, wenn du so redest.«
Darunter hatte eine andere Hand mehr hingekritzelt als geschrieben: Und für mich ist der Hügel, den du besteigst, ein Berg. Aurora . Der Anfangsbuchstabe des Namens sah wirklich aus wie ein kleiner Berg, allerdings ein krummer, der zu kippen drohte, während das abschließende A eine höchst respektable Anhöhe darstellte, fest und stabil. Auf den ersten Blick hätte man glauben können, diese beiden Buchstaben wären von zwei verschiedenen Personen geschrieben worden. Er schob das Foto in den Rahmen zurück.
»Gut, bis gleich.«
Als er aufgelegt hatte, betrachtete er sich im Spiegel, neigte den Kopf zuerst nach rechts, dann nach links, um das Haar zu prüfen, lächelte dann und betastete die Vorderzähne. Schließlich drehte er sich um, zog den Regenmantel an und verließ die Wohnung.
Der Unbekannte, der eine Affäre mit deiner Frau hat
Im gleichen Moment, in dem Modesto aus dem Haus trat, stand Aurora in der Bar gegenüber in der Telefonkabine, steckte unter nervösem Klimpern Jetons in den Schlitz, um jemanden anzurufen.
»Hallo. Luciano, hörst du mich?«
»Ah, du bist es.«
»Natürlich, wer denn sonst?«
»Von wo rufst du an?«
»Ich bin schwanger.«
»Ah.«
»Ich bin mir ganz sicher.«
»Schwanger.«
»Genau.«
»Wer von beiden?«
»Einer von beiden.«
»Herzlichen Dank.«
»Du vielleicht.«
»Ich vielleicht.«
»Sehen wir uns heute?«
»Gut.«
Aurora verließ die Kabine, hörte die Tür hinter sich zufallen. Ging zum Tresen, wo der Barista ihr zuzwinkerte und fragte: »Sie wünschen?«
Sie antwortete: »Grappa, bitte.«
5.
Andere sonderbare Männer
Auf dem schmalen Trottoir sah Modesto zum zweiten Mal an diesem Tag den Nachbarn, der ihm mit Stock und Mops an der Leine entgegenkam.
Schulter an Schulter blieben die beiden Männer stehen, wie im Theater, wenn ein Schauspieler abgeht und gleichzeitig ein anderer die Bühne betritt und beide mit ihren Blicken die Wirkung des Konkurrenten taxieren und sich Gedanken über die Dummheit des Impresarios oder des Publikums machen, die diesen Wechsel auch noch gutheißen. Sie wären noch länger so dagestanden, hätte nicht ein Hupen sie aufgeschreckt und gezwungen, ihren Weg fortzusetzen – der Alte langsam, vom Rhythmus des Stocks begleitet, der Mann im Regenmantel hastig und fast hüpfend.
Die Straßenzüge wirkten grau im spärlichen Licht, die unterschiedlich hohen Gebäude waren fahl geworden, und beim Anblick der Arkaden und Hauseingänge musste Modesto an ein von Menschen durchströmtes Rohrsystem denken.
Als er zu einer Piazza kam, sauste ein Fahrrad vorbei, auf dem eine junge Frau mit rotem Haar und einem leichten, grünen Mantel saß, der unter dem runden Gesäß in Falten lag. Er blickte ihr nach: Wie sie in eine von gelblichen Rasenstücken und ein paar Bänken getupfte Allee abbog, und als sie klingelnd um die Ecke verschwand, hatte Modesto das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. Er drehte sich abrupt um, suchte die Umgebung ab, konnte aber niemanden entdecken.
So lief er weiter, an ein paar Baustellen vorbei, wo die Rufe von Arbeitern, der Lärm quietschender Flaschenzüge und aufschlagender Eimer widerhallten. Dann quer über eine stark befahrene Straße, die rund um eine Art erhöhte Bauminsel voller Skulpturen aus weißem Stein führte. Ein Automobilist streckte seinen kahlen Kopf zum Fenster heraus und raunzte ihn an.
Modesto erreichte den Eingang dieses abgeschiedenen Areals, das in Wirklichkeit ein Friedhof war. Wenn er sich vor dem Aufstoßen des Tors nicht noch einmal umsah, lag das nicht etwa daran, dass sich sein Eindruck, beobachtet zu werden, inzwischen gelegt hätte, er war im Gegenteil zur Gewissheit geworden, sodass es sich gar nicht mehr lohnte, überhaupt darauf zu achten.
Unter dem düsteren Himmel schimmerten die Figuren auf den Gräbern blass silbrig, wie eine Schar an Land katapultierter, dank einer klimatischen Besonderheit fast unversehrt gebliebener toter Fische, mit offenen Kiemen und starrem Blick. Er war zum zweiten Mal hier. Beim ersten Mal, kurz nach Kriegsende, hatte die Märzsonne auf Löcher im Gelände, zerbrochene Marmorplatten und mehrere umgestürzte Bäume herabgeschienen, aber aus Spalten neben den Grabsteinen sprossen wie zum Trotz violette Blumen.
Nach ein paar Schritten auf dem Kiesweg, an dessen Ende eine Säule prangte, setzte er sich auf das erstbeste flache Grab. Er streckte die Beine, fasste die Schöße des Regenmantels und legte sie übereinander auf die Knie, schaute sich dann um. Vor ihm, auf der anderen Seite des Streifens aus Kies, ragte über ein paar Grabsteinen eine Zypresse in die Höhe. Zwei Blätter einer Zeitung hatten sich in ihren Zweigen verfangen.
Er knöpfte den Regenmantel auf, kramte in der Tasche des Jacketts und nahm das Stück Brot heraus, das er zu Hause eingesteckt hatte. Verschlang es in so großen Bissen, dass er davon Schluckauf bekam. Als der nachzulassen schien, hörte er, eine Hand auf das Brustbein gepresst, hinter sich ein Rascheln.
Er drehte sich langsam um – am Gaumen klebte ihm noch Brot – und sah einen alten Mann, der hinter einer Skulptur, einem Skelett mit Kapuze und Augenbinde, hervorkam und sich gerade die Hose zuknöpfte.
Während der Alte sich näherte, fiel Modesto sofort auf, dass ihm eine Hand fehlte und dort stattdessen eine Blechtasse befestigt war – der Henkel schaute wie ein zugeklapptes Messer unter der schmutzigen Manschette hervor.
Modesto sprang auf. Der alte Mann, tiefe Augenhöhlen und gelber Schnurrbart, blieb ganz in der Manier eines Hausherrn ein paar Schritte vor ihm stehen und fuchtelte wortlos mit dem verstümmelten Arm herum, um auf etwas jenseits des Friedhofs zu deuten, irgendwo weit weg.
Modesto machte einen Satz auf ihn zu und schrie: »Warum stellst du mir nach?«
Der Alte wich erschrocken zurück, suchte nach einer Stütze, einem Gegenstand, sah einen roh bearbeiteten Ast an einem Grab lehnen, machte wegen des verstümmelten Arms eine halbe Drehung, um danach greifen zu können. Fuchtelte damit durch die Luft und wies dem vor ihm stehenden Eindringling den Weg zum Ausgang des Friedhofs.
Eine graue Krähe flatterte über ihre Köpfe und setzte sich unweit der Zeitung auf die Zypresse.
Modesto lief zum Tor, gefolgt vom alten Mann, der ihm in einer fremden Sprache etwas hinterherschrie. Auf der Schwelle blieb er einen Augenblick stehen, drehte sich um und sah, dass der Alte noch nicht einmal die halbe Strecke zurückgelegt hatte: Er hielt den Ast umklammert, während die andere Hand, die verstümmelte, hinunterbaumelte, und kam nur mühevoll vorwärts, da er Kiesel, Blätter, Dreck mitschleppte. Modesto musste lachen, hinter ihm rasten Autos vorbei, und beinahe hätte er einen Stein aufgehoben, um ihn in Richtung seines Verfolgers zu werfen, einfach so, zum Spaß, wie auf einen Hund, aber dann ließ er es doch sein. Stattdessen hob er zum Abschied den Arm und überquerte die Straße im Laufschritt.
Er kam an einer Synagoge vorbei, deren Kuppel Grünspan in den weißen Himmel zu schleudern schien. Jahre zuvor hatte er die Synagoge, erinnerte er sich, im Zustand der Verwüstung gesehen: Peitschender Wind hatte Schnee hereingetragen und an den verkohlten Holzsitzen gerüttelt, und obwohl der Krieg vorbei war, hallte unaufhörlich der Lärm berstender Materialien nach, als hätte die Wirkung jede Verbindung mit der Ursache verloren.
Pfeifend, die Hände in die Taschen gesteckt, kam er in die Florentiner Viertel, die so zeitlos waren, dass ihnen das Alter kaum anzusehen war und sie wie soeben entstanden gewirkt hätten, wären da nicht die Quader und Zinnenkränze einiger Palazzi gewesen, die herausstachen wie Signaturen unter einem zu oft umgeschriebenen, durch den Gebrauch so verblassten Dokument, dass man es auch für ein weißes Blatt hätte halten können.
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