1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 »Na? Gut geschlafen?«
»Nicht wirklich. Du weißt, ich schlafe nie besonders viel.«
Das war nur ein Teil der Wahrheit. Vampire nutzten die Tagesstunden, um Energien während des Schlafens zu regenerieren. Aber Christian bildete eine Ausnahme. Er schlief nie viel. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er mit Grübeln. Es machte ihn eigenbrötlerisch und auch ein wenig einsam. Er konnte jedoch nicht anders. Seit inzwischen zehn Jahren war er ein Vampir, doch er hielt immer noch an seinem früheren menschlichen Dasein fest.
Mehrmals innerhalb der letzten Jahre hätte er beinahe seine Familie in Orléans aufgesucht. Jedes Mal hatte er sich gerade noch zurückhalten können. Was sollte er ihnen sagen? Sie hielten ihn für tot. Und das war auch gut so. Sie würden ihn nicht akzeptieren. Schlimmstenfalls würden sie in ihm ein Wesen der Nacht sehen und versuchen ihn umzubringen. Und eine bösartige Stimme im hintersten Winkel seines Verstandes sagte ihm, dass sie damit auch recht hatten.
Er wandte sich um und musterte die Männer, die ihm auf seinem Kreuzzug gegen das Böse bereitwillig folgten. Sein Blick fiel auf drei Templer, die Karten spielten und dabei ein Fass als Tisch benutzten.
Ein großer, dunkelhaariger, breitschultriger Kerl war ein Landsmann von Christian. Pascal de Gascogne, der Sohn eines kleinen Landadligen in einer abgeschiedenen Provinz. Der Ritter war ein guter Kämpfer, aber auch aufbrausend. Falls er jemals sein Temperament unter Kontrolle brachte, würde er sehr wertvoll für die Templer im Schatten sein.
Pascal hatte sich mit seinem Vater entzweit und war Richard Löwenherz auf den Dritten Kreuzzug gefolgt. Dort hatte er während einer Schlacht ein Haus gestürmt, um zu plündern. Aber statt Reichtümern hatte er ein Nest Vampire vorgefunden, die ihn verwandelten. Er war anschließend mit den Überlebenden des Kreuzzugs nach Europa zurückgekehrt. Während des langen Marsches hatte er sich an seinen nichts ahnenden Kameraden gelabt. Wenn auf der Reise hin und wieder ein Soldat verschwand, so fiel das keinem groß auf. Derartige Verluste wurden quasi einkalkuliert.
Als Christian ihm begegnete, hatte sich der Mann in den Armenvierteln von Toulouse ausgetobt. Christian hätte ihn beinahe getötet. Es war Karl gewesen, der ihn überredet hatte, dem gefallenen Ritter eine Chance zur Rehabilitation zu geben. Von diesem Moment an hatte Karl ihn unter seine Fittiche genommen. Christian behielt Pascal gut im Auge, aber es gab zumindest bisher kaum Grund zur Klage. Der Ritter machte sich recht gut und schien sich auch mit der Versorgung durch Nagetiere – wenn auch mürrisch – abzufinden.
Christian vermutete, Karl sah in dem jungen Ritter ein verzerrtes Abbild seiner selbst. Immerhin war es noch gar nicht lange her, da war Karl von Braunschweig der Blutsucht erlegen. Es waren Heinrichs Fürsprache und Christians Geduld gewesen, die ihn zurückgeholt hatten. Nun tat Karl dasselbe für den jungen Franzosen.
Rechts von Pascal saß Franz Berger und ärgerte sich über sein grottenschlechtes Blatt, sehr zum Vergnügen seiner beiden Mitspieler. Der Krieger besaß viele bewundernswerte Eigenschaften, aber eine ausdruckslose Miene gehörte nicht dazu.
Franz war eigentlich kein Ritter. Er war gewöhnlicher Soldat in der Armee des Herzogtums Westfalen gewesen. Als die Templer im Schatten auszogen, um Männer für ihre Sache zu rekrutieren, da hatte Franz beinahe schon begeistert zugestimmt. Selbst die Verwandlung schien ihn nicht zu stören, anders als bei den meisten anderen Rekruten. Der Mann war gerade in der Ausbildung und würde unter Umständen irgendwann ein passabler Ritter sein, falls er jemals verinnerlichte, mit einem Schwert nicht umzugehen, als wäre es eine Holzfälleraxt.
Der Dritte im Bunde war Matthew Blackthorne aus London, ebenfalls ein Rückkehrer aus dem Dritten Kreuzzug. Er war auf dem Weg zurück in seine Heimat gewesen. Doch er hatte das Pech gehabt, auf einer Landstraße einer Bande Vampire in die Arme zu laufen.
Christian und einige Templer im Schatten waren hinzugekommen und hatten die Vampire vernichtet. Sie waren jedoch nicht rechtzeitig genug da gewesen, um Matthew zu retten. Als Christian ihn fand, da lag der Ritter am Boden und war am Verbluten. Der Tod schwebte bereits unheilvoll über ihm. Christian hatte ihn kurzerhand verwandelt, um ihm das Leben zu retten. Anschließend hatte sich Matthew ihnen angeschlossen. Das war weniger als ein Jahr her. Er war der neueste Zugang bei den Templern im Schatten.
Die übrigen etwa vier Dutzend Ritter lungerten mehr oder weniger im Laderaum des Schiffes herum und wussten nicht wirklich etwas mit der freien Zeit anzufangen, die ihnen zur Verfügung stand. Einige unterhielten sich gedämpft, wiederum andere hingen in ihren Hängematten und starrten mit stumpfer Mimik Löcher in die Luft. Der weitaus größte Teil war jedoch mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt. Und das ängstliche Quieken kleiner Nagetiere hing über der ganzen Szenerie. Die Überreste würden sie später im Meer entsorgen, und zwar auf eine Weise, die sicherstellte, dass die ohnehin schon misstrauische Besatzung nichts mitbekam.
Karl stieß ihn leicht an. »Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«
Christian stieß einen Schwall Luft zwischen den Vorderzähnen aus. »Nicht so wichtig. Mir ist nur gerade bewusst geworden, wie schnell die Zeit vergeht.«
»Und das wird dir erst jetzt klar?« Karl schmunzelte.
Christian durchschaute allerdings die Maske, die sein Freund trug, und blickte tiefer. Wie viele andere auch war Karl nicht freiwillig Vampir geworden. Seine Verwandlung war ein Gewaltakt von Frederick DiSalvatino gewesen, der Heinrich lediglich etwas hatte beweisen wollen.
Christian drehte sich um, lehnte sich mit beiden Unterarmen schwer auf das Fensterbrett und sah hinaus auf das leicht aufgewühlte Meer. Er überlegte, was er seinem langjährigen Freund darauf antworten sollte, als ihm etwas am Horizont auffiel.
Er kniff die Augen zusammen. Ein kurzer Lichtschein erschien, nur um nach einer oder zwei Sekunden wieder zu verschwinden. Christian deutete in die Ferne. »Siehst du das auch?«
Karl kam näher und folgte dem Wink. Er wirkte im ersten Augenblick verwirrt, doch dann sah auch er den fernen Lichtschein.
»Ist das ein Schiff?«
»Ja«, erwiderte Christian. »Es hält sich dicht hinter dem Horizont, um nicht gesehen zu werden. Die Wellen heben ab und zu den Mast an. Was wir dort sehen, ist vermutlich eine Lampe im Krähennest. Ich glaube, wir werden verfolgt.«
Karl schürzte die Lippen. »Das kann auch nur Zufall sein. Wir befinden uns auf einer viel befahrenen Handelsstraße.«
Christian dachte einen Augenblick über Karls Worte nach. Es war viel Wahres in ihnen enthalten. Trotzdem durfte er kein Risiko eingehen. Nicht angesichts der heiklen Mission, auf der sie sich befanden.
»Ich gebe dennoch Moreau Bescheid. Er soll dieses Schiff im Auge behalten. Wenn es uns weiterhin folgt, dann ist das ein Grund zu großer Besorgnis.«
»Wie du meinst«, erwiderte Karl wenig überzeugt.
Christian drängte sich an seinen Männern vorbei und begab sich eilig an Deck. Der Wind frischte merklich auf. Bereits mit dem ersten Schritt erkannte er, dass etwas nicht stimmte. Das Deck war merkwürdig leer. Nur wenige Besatzungsmitglieder waren zu sehen. Zwei von ihnen lehnten sich an den Hauptmast und schienen sich zu unterhalten. Sein Blick glitt nach oben. Der Ausguck war besetzt. Oberflächlich betrachtet, gab es keinen Grund für Misstrauen. Dennoch mahnten ihn seine inneren Alarmglocken zur Vorsicht. Irgendetwas war definitiv faul.
Moreau stand auf dem Achterdeck am Ruder. Christian lockerte sein Schwert in der Scheide und ging auf den Kapitän zu. Der Templer stieg die steilen Stufen zum Achterdeck hinauf. Beißender Geruch stieg ihm in die Nase, den er nicht gleich einzuordnen wusste.
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