Jola ließ ihn zunächst gewähren, dann entzog sie sich seinem Griff und sagte:
„Nein Jost, es ist entschieden. Valeskas Vater ist Jan-Hugo und so steht es in der Geburtsurkunde. Geh und mach es nicht noch schlimmer!“
„Sie hat recht Jost“, bestätigte ich ihm so freundlich wie möglich.
„Es ist für alle besser so. Bitte denke auch an das Mädchen. Sie soll in soliden Verhältnissen aufwachsen. Wie belastend wäre es für sie, wenn sie zwei Väter hätte.“ Ich hatte Jost seit jenem schicksalshaften Tag nicht mehr gesehen. Zum Kummer von Oma Rosa hatte er jede Familienfeier tunlichst vermieden und derer gibt es viele im Hause König.
Er sah jetzt schlanker aus und ja, irgendwie reifer. Sollte mein kleiner Bruder etwa doch erwachsen geworden sein?
Ich schreckte aus meinen Gedanken, als ich ihn fragen hörte:
„Bitte, darf ich sie wenigstens einmal halten?“
Jola wollte ihm schon eine verneinende Antwort geben, aber ich sagte schnell: „Natürlich Jost, diesen Wunsch können wir dir erfüllen.“
Ganz der stolze Vater und deswegen gönnerhaft, nahm ich Jola vorsichtig das Baby aus dem Arm und reichte es dem Erzeuger.
„Ist sie nicht ein goldiger Schatz?“, gurrte ich verzückt.
Andächtig nahm Jost unsere Tochter entgegen und murmelte: „Valeska, du wunderschönes Wesen! Ich bin dein Vater und in Gedanken werde ich immer bei dir sein. Eines Tages wirst du mich treffen und erfahren, wer ich bin.“
Seine Augen waren feucht geworden, als er mit einer energischen Handbewegung die langen, lockigen Haare aus dem Gesicht strich und zu mir und Jola sagte:
„Das ist euer letztes Wort?“
Wir nickten stumm und schauten ihn traurig an.
Heftiger als beabsichtigt, legte Jost den Säugling in die neben ihm stehende Wiege, wo dieser sofort zu schreien begann.
„Also gut, hier hält mich nichts mehr. Ich breche mein Studium ab und wandere nach Paraguay aus!
Paraguay, 22. Juli 1999
„Sehr geehrte Damen und Herren, unser Flug nähert sich dem Ende. Bitte bringen Sie Ihre Sitze wieder in eine aufrechte Sitzposition und legen Sie Ihre Sicherheitsgurte an.
In wenigen Augenblicken setzen wir zum Landeanflug auf Asunción an. Das Wetter dort ist für den hier herrschenden Winter mit 25 Grad Celsius sehr angenehm, also nicht viel anders als im sommerlichen Deutschland. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
Der Pilot, der das ganze routiniert abgespult hat, hält kurz inne, bevor er sich auch auf Spanisch von den Passagieren verabschiedet.
Verschlafen schaue ich aus dem Fenster. Unter mir bietet sich eine erste Aussicht auf Paraguay. Ich sehe eine Flusslandschaft, das muss der Río Paraguay sein.
Vor meinem Abflug habe ich versucht, so viele Informationen wie möglich über Paraguay, Land und Leute, Geschichte, Klima und Wirtschaft herauszufinden.
Im Internet habe ich ein paar Anhaltspunkte bekommen, aber Hugos lahme Internetverbindung hat meine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Weiß der Geier, wie er damit arbeiten kann!
Auch im örtlichen Reisebüro habe ich versucht, aktuelle Informationen zu bekommen.
Selbst in der Bücherhalle - dort gab ich vor, ein Referat halten zu wollen und die freundliche Bibliothekarin suchte mir das kümmerliche Material, das es gab, zusammen.
Hier das Ergebnis meiner Recherche: Der Binnenstaat Paraguay, 1811 gegründet, liegt südlich des Äquators und wird von überwiegend tropischem Klima geprägt.
Er teilt sich in zwei Klimazonen, der trockene, warme und wasserarme Chaco im Westen des Landes mit wenig Vegetation und ebensolcher Besiedelung. Andererseits der Osten, wo der Großteil der Paraguayer wohnt. Hier liegen die meisten großen Städte und es herrscht ein eher tropisches Klima.
Bis vor zehn Jahren war Paraguay eine Diktatur! Auch seitdem reichen sich die Präsidenten die Klinke in die Hand.
Der letzte musste abdanken und fliehen, weil er im Verdacht stand, in ein Mordkomplott verwickelt zu sein. Das war vor vier Monaten!
Es gibt zwei Amtssprachen: Spanisch und Guaraní, die Sprache der Ureinwohner. Oftmals wird aber eine Mischung aus beidem gesprochen.
Soweit ich weiß, reagiert immer noch die Partei des Diktators, ein Mann mit deutschen Vorfahren!
Demnächst sollen aber wohl die nächsten Wahlen anstehen.
Dieser Alfredo Stroessner hat Paraguay über drei Jahrzehnte seinen Stempel aufgedrückt. Er kollaborierte mit sämtlichen südamerikanischen Diktatoren.
In Paraguay sollen auch viele ehemalige Nazis und deren Nachkommen leben. Ihnen sowie einer großen Anzahl an deutschen Auswanderern in den darauffolgenden Jahrzehnten und bis heute ist es zu verdanken, dass fünf Prozent der Bevölkerung deutschstämmig sind und Deutsch beliebte Fremdsprache in der Schule ist.
Tatsächlich ließ Stroessner in den 70er-Jahren Anzeigen in vielen deutschen Zeitungen schalten, in denen Paraguay als Auswanderungsland für Deutsche angepriesen wurde.
Vielleicht hat Jost daher diese Idee ...
Das mit den Nazis gefällt mir gar nicht und dass Jost sich gerade ein Land aussuchte, in dem eine Diktator herrschte, noch weniger.
Jetzt werde ich ihm gleich gegenübertreten – meinem Vater.
Zunächst bringe ich noch die Zoll- und Einreiseformalitäten hinter mich und warte auf mein Gepäck – ein riesiger Hartschalenkoffer von Jan-Hugo.
Ich schnappe mir das Monstrum und ziehe es energisch hinter mir her. Vor den automatischen Schiebetüren bleibe ich noch mal stehen. Fahre durch meine Kurzhaarfrisur, straffe mich zu meinen stolzen 165 cm und hole tief Luft, bevor ich entschlossen nach draußen trete.
Fast gleichzeitig entdecken und erkennen wir uns.
Der 170 cm große Mann in Jeansjacke, weißem T-Shirt und verwaschener Blue Jeans kommt mir mit einem unsicheren Lächeln auf den Lippen entgegen.
Seine Augen sind eine Nuance dunkler als meine himmelblauen, das Haar wellig, kurz und hellbraun.
Ich lächele vorsichtig zurück und sage: „Hallo“
„Valeska“, sagt er nur. „Meine Tochter. Es ist schön, dich endlich mit eigenen Augen zu sehen! Unser erstes Telefonat vor drei Wochen war anders, als ich es mir erhofft hatte.“
Deutschland, 17.06.1999
„Wie konntet ihr nur etwas so Widerwärtiges machen? Warum habt ihr mir das angetan?
Was seid ihr für Menschen?! Du“, ich zeige auf meine Mutter, „du“, dies gilt Jan-Hugo, „und mein sogenannter Vater Jost Harald! Warum habt Ihr ihn so weggeschickt?
Er wollte Anteil nehmen! Warum hat er sich nicht gewehrt, dieser Feigling! Ein Vaterschaftstest wäre das Mindeste gewesen!“
Ich breche schluchzend zusammen und sinke auf den Boden.
Beide trösten mich und irgendwann habe ich mich beruhigt.
„Ach Leska“, seufzt Jan-Hugo. „Damals dachten wir, es sei das Beste für alle.
Wir hielten Jost der Verantwortung nicht für gewachsen. Vaterschaftstests waren damals nicht so üblich wie heute und schließlich gab er nach und ging nach Paraguay“
„Ich will mit ihm telefonieren“, schluchze ich.
„Ja in Ordnung. Aber das machen wir morgen. Heute sind wir alle zu aufgeregt“, sagt mein Onkel.
***
Am nächsten Tag sitze ich vor unserem Mobilteil und starre auf die lange Telefonnummer.
Zuerst wollte Hugo seinen Bruder vorwarnen, aber ich sagte, dass ich allein mit ihm sprechen möchte.
Mit klopfendem Herzen beginne ich zu wählen.
„Hola“ meldet sich eine weibliche Stimme.
Ich stottere den spanischen Satz, den ich mir zurechtgelegt habe.
„Sí claro“, antwortet die Señora und ich höre sie nach „José“ rufen.
„Hola“, meldet sich kurz darauf eine angenehme, männliche Stimme.
„Hallo ... – Jost“, sage ich stockend. „Hier ist deine Tochter.“
Plötzlich steigen Tränen und eine unbändige Wut in mir hoch:
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