Der Regen war einer warmen Nachmittagssonne gewichen, die das Nass auf der Straße zum Dampfen brachte. Auf einer Informationstafel lernte er, dass die kleine französische Stadt am Fuße der Pyrenäen für den Endpunkt des Französischen Jakobsweges Via Podensis und für den Beginn des Camino Francés stand.
Hunter verfolgte auf der Informationstafel den anstehenden 27 Kilometer langen Weg auf der Route Napoleon über den Ibañeta-Pass in das spanische Roncesvalles. Die Legende der Karte gab dafür eine Wanderzeit von sechs Stunden und siebzehn Minuten an. Dabei hatte Google wohl die achthundert Höhenmeter nicht berücksichtigt, dachte er.
»Wollen Sie auch die Pyrenäen überqueren?«, fragte ihn plötzlich eine Stimme von hinten.
Hunter ließ sich nichts anmerken, als er in Hartmanns Gesicht sah. Der Mann war allein.
»Ja, wenn das Wetter mitspielt. Sonst marschiere ich wohl auf der N 135. Das Pilgerbüro soll angeblich wissen, ob der Pass gesperrt ist.«
»Ach, das ist gut zu wissen. Wussten Sie, dass Karl der Große im Jahr 778 den Pass auf seinem Feldzug nach Spanien erreicht hat? Also sollten wir es auch schaffen. Ich starte übermorgen und Sie? Mein Name ist übrigens Johannes.«
»Angenehm, ich bin Gerd. Dann werden wir uns sicherlich sehen. Ich starte auch übermorgen früh – mit einer Gruppe.« Hunter bemerkte, wie Hartmanns Augen ihn noch stärker fixierten. Er spürte förmlich, wie sein Gegenüber seine Wiedererkennungserinnerung bemühte. Doch das war vollkommen aussichtslos. Hunter war für ihn kein Gesicht aus Maria Hilf und schon gar nicht als Ermittler im Fall. Das schien ihn äußerst nervös zu machen. Das Psycho-Spiel Wer-Ist-Wer hatte begonnen, bevor es offiziell anlaufen sollte.
»Also, dann, Buen Camino, Johannes!«
»Buen Camino, Gerd, bis übermorgen!«
Im Weggehen sah Hunter, wie Hartmann telefonierte. Auch schien der besser zu Fuß zu sein, als es zunächst im Hotel den Anschein hatte.
Hunter folgte den mittelalterlichen Gassen bis zur hölzernen Markthalle, wo die Lebensmittelprodukte der unteren Navarra angeboten wurden. Er genoss es, in einem Ort ohne die bekannten Einkaufsketten zu sein. Die Türen zu den kleinen Werkstätten standen offen. In einem Werkstattladen nähte eine Frau Espadrilles. Er sprach mit ihr und lernte, dass es regelmäßig Pilger gab, die mit diesen traditionellen baskischen Alltagsschuhen tatsächlich den Jakobsweg erwanderten.
Der ganze Ort war auf Pilger ausgerichtet. Pilger-Herbergen, Pilger-Menüs, Pilger-Ausrüstung. Verärgert stellte Hunter fest, dass die Schuhe, Wanderstöcke und Textilien preislich deutlich günstiger lagen als zu Hause, einschließlich der Pilgermuschel, auf die er allerdings verzichtet hatte. Wer auf dem Jakobsweg wanderte, der musste sich nicht noch öffentlich mit dem Erkennungszeichen der Pilger dekorieren, war sein Standpunkt.
Doch seiner Enkeltochter Marta, die in der Zeit seiner Abwesenheit von seiner Haushälterin in deren Wohnung betreut wurde, hatte er einen Pilgerpass mit vielen Stempeln versprochen – ein kleiner Ersatz dafür, dass sie ihn nicht begleiten durfte.
»Sie wissen, warum Sie den benötigen?«, fragte ihn der Leiter des Pilger-Büros.
»Nun, damit ich in Santiago de Compostela eben die Compostela -Pilgerurkunde bekomme, als Nachweis, dass ich den Weg wirklich gepilgert bin.«
»Richtig, und zwar die letzten einhundert Kilometer auf dem Camino zu Fuß, zu Pferd oder im nicht motorisierten Rollstuhl oder zweihundert Kilometer per Rad.«
»Die Kirche hat tatsächlich an alles gedacht«, meinte Hunter lachend.
»Die Stempel bekommen Sie in den Unterkünften und Kirchen am Jakobsweg. Vergessen Sie nicht: Auf den letzten einhundert Kilometern benötigen Sie dann täglich Stempeleinträge von zwei Orten.«
»Warum diese Stempelwut?«, fragte Hunter.
Der Baske lächelte.
»Damit Jakobus nicht zu leicht betrogen wird … Oder wollen Sie eventuell gar nicht bis nach Santiago pilgern?«
»Stimmt, ich wandere nur bis nach Burgos. Mir geht es, offen gestanden, auch nicht um die Urkunde in Compostela. Meine Enkeltochter hat sich einen Pilgerpass mit den Stempeln meiner Wanderung gewünscht.«
»Dann erzählen Sie ihr auch von Ihren Erlebnissen und Selbsterfahrungen.«
»Sofern ich mich überhaupt selbst erfahre«, meinte Hunter freundlich, den leeren Pilgerpass durchblätternd.
Der Baske lächelte ihn von oben bis unten musternd an. Er kannte offensichtlich Pilger jeglicher Herkunft. Immerhin starteten jedes Jahr über sechzigtausend von hier.
»Wer wandert, wird sich verwandeln, auch du.«
Hunter nahm diese Weisheit nur nebenbei zur Kenntnis und sah sich im Pilgerbüro um. Tatsächlich interessierte er sich mehr für die Menschen. Er war froh, dass seine konspirative Mitarbeiterin und Journalistin, Hanna Dohn, morgen am 13. Mai, dem Tag der allgemeinen Anreise, eintreffen würde. Hunter lachte in sich hinein, als er an die gemeinsame Doppelrolle dachte. Für ihn, alias Gerd Ballhaus, war der Gebrauch eines Pseudonyms gelebter Alltag. Aber für Hanna Dohn, nun Maria Feldmann, keineswegs. Gerd und Maria, inhaltlich bestens vorbereitet und durchgehend mit dem BKA verbunden, waren das erste Pilgerpaar des Amtes auf dem Jakobsweg.
Als er das Büro verließ, wurde er von einem kleinen Hund begleitet. Nachdem der auch einige hundert Meter weiter nicht von ihm abließ, blieb Hunter stehen und schaute sich nach dem Besitzer um. Niemand suchte ihn. Der mittelgroße Hund mit glattem, braunem Fell trug kein Halsband. Hunter schüttelte den Kopf, der Hund wackelte mit dem Schwanz und fixierte ihn mit seinen tiefbraunen Augen, wobei ein Ohr leicht hochstand, das andere lag flach an.
»Ich habe nichts für dich, lauf nach Hause!«
Der Hund stand weiterhin wie angewurzelt vor ihm, hielt den Kopf leicht schräg und wedelte weiter mit dem Schwanz. Aus seinem Gebiss ragte leicht ein seitlicher Zahn heraus, was ihm den Anschein eines ständigen Lachens gab.
Hunter wandte sich ab und suchte den Weg zur Brücke über den Fluss Nive.
Der Hund folgte ihm.
Hunter blieb erneut stehen und wies ihm nun energisch den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Der Hund blickte ihn wedelnd an.
» Dich werde ich gleich los«, murmelte Hunter, als er die Kirche Notre-Dame betrat und sich vergewisserte, dass sich der Hund nicht an seine Ferse geheftet hatte. Tatsächlich blickte der kurz zu ihm, gab auf und verschwand.
Als Hunter die Kirche verließ, sprang der Hund erfreut auf ihn zu.
Sie liefen gemeinsam auf der Wehrmauer entlang, sodann zur Zitadelle, wo der Hund wieder auf Hunter wartete. Es war Zeit, das Tier endgültig loszuwerden.
»Wissen Sie, wem der Hund gehört?«, fragte er den Leiter des Pilgerbüros.
Der Baske sah sich den Hund an.
»Nein, er scheint herrenlos zu sein. Eine typische Promenadenmischung, etwas Ratonero, etwas Galgo, davon gibt es hier einige. Sehr hübsch, vielleicht ein Jahr alt und offensichtlich sehr aufgeweckt.«
»Gibt es hier ein Tierheim?«
»Soviel ich weiß, nein.«
»Und nun? Der weicht nicht mehr von meiner Seite.«
»Dann hat er sich Sie ausgesucht, Pilger.«
»Das wüsste ich aber! Tun Sie mir bitte einen Gefallen. Ich gehe jetzt hier hinaus, und Sie halten bitte einen Moment die Tür geschlossen, bis ich verschwunden bin.«
»Wie Sie mögen, Monsieur.«
Hunter eilte die Rue de la Citadelle hinunter, sodann in die Rue de France, drehte sich um – seinen Begleiter war er los – und suchte sich einen Platz im baskischen Restaurant Chez Dédé, das von der Hauptstraße aus nicht sichtbar war. Das einfache Menü mit liebevoll zubereiteten Qualitätsprodukten und einem trockenen Hauswein entschädigte ihn für die Strapazen der Anreise und der lästigen Begegnung mit dem Straßenhund.
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