Endlich! Ende der langen Anreise. Das Bahnhofsschild von Saint-Jean-Pied-de-Port nahm er unter seiner runden und wieder einmal beschlagenen Nickelbrille nur verschwommen wahr. Er überlegte, ob er sich einen Augenblick unterstellen sollte. Doch der kleine, kompakte weiße Bahnhofsbau mit seinen roten Türen und Fensterläden bot nicht den geringsten Schutz. Der Bau strahlte regelrecht aus: Pilger mach‘ dich auf den Weg, auch wenn es ungemütlich wird .
Hunter zog seinen dunkelgrünen Poncho über und die Kapuze eng an das Gesicht. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass der Wind den Regen in den Nacken drückte. Er würde nass sein, bevor die Pilgerreise überhaupt begann. Doch die aufgekratzten Menschen um ihn herum lachten, als gehörte diese Flut zur ersten Prüfung des Heiligen Jakobus. Eine Frau, offensichtlich aus den USA, rief ziemlich hysterisch in die Menge „Buen Camino!“ Das stand wohl so im Reiseführer für die Ankunft in Saint-Jean-Pied-de-Port, dachte er.
Auf der einundzwanzigstündigen Zugfahrt von Frankfurt nach Bayonne hatten sich die Wanderer schnell gezeigt. Man erkannte sie natürlich am Rucksack, doch einige Pilgerwanderer vor allem an deren Mitteilsamkeit. Sie erzählten ungefragt ihre Lebensgeschichte, so als wäre ein öffentliches Bekenntnis im Zugabteil über persönliche Schicksalsschläge die zwingende Voraussetzung für das Betreten des Jakobsweges. Wenn einer zu Ende gesprochen hatte, verstanden andere das als eine Aufforderung, sich ebenso zu outen. Tod in der Familie, Berufswechsel, Gottsuche, Ehekrisen, Selbstfindung und so weiter. Ein Mann im mittleren Alter meinte, seine einzige Motivation für die Pilgerfahrt sei es, eine Lebenspartnerin zu treffen: »Wenn es jemand mit mir über achthundert Kilometer aushalten wird, dann auch für den Rest des Lebens.« Einige lachten.
Hunter hatte gelesen, dass der Jakobsweg längst auch ein Weg für die Partnersuche sei und auf Apps wie Tinder eingesetzt wurde, um das Kennenlernen von Menschen in der näheren Umgebung zu erleichtern. Das Hobby-Wandern hatte man bereits gemeinsam, für das Kennenlernen gab es Zeit auf dem Weg und in den Herbergen.
»Ja«, meinte eine kleine, kompakte Frau mit kurzgeschorenem, grauem Haar und einem riesigen Rucksack: »Es ist ein wunderbares Wandern, wenn einer ist Kamerad des andern.« Hunter gehörte zu den wenigen Verschlossenen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, über die schwere Zeit mit seiner sterbenskranken Frau hier zu unbekannten Menschen zu reden. Anderen Pilgern ging es offensichtlich ähnlich.
Er versuchte herauszufinden, ob unter den Verschlossenen ein Teilnehmer der Pilgergruppe ROSE , wie er sie für sich getauft hatte, sein könnte. Doch er wurde nicht fündig. Missbrauchstäter hatten keine spezifischen Wesenszüge, an denen man sie erkennen konnte, wusste er. Sie lebten perfekt getarnt in der Mitte der Gesellschaft und zeigten ihr wahres Gesicht erst im Gericht, wo ihnen der Spiegel über das durch sie verursachte Leid vorgehalten wurde.
Er erinnerte sich an den Kinderschänder aus Würzburg, der als Logopäde in 64 Fällen des Missbrauches für schuldig befunden wurde, dafür mehr als elf Jahre Haft bekam, und von dem der Richter gesagt hatte: »Der nach außen so angenehme Mann hat ganze Familien pulverisiert.« Erst am Ende des Prozesses zeigte der Täter eine gewisse Reue, aber wohl mehr um das Strafmaß zu senken.
Oder jener 27-jährige Mann, der im Kindermissbrauchsfall von Bergisch Gladbach gestanden hatte, vier kleine Kinder im Alter zwischen einem und fünf Jahren in über dreißig Fällen zum Teil schwer missbraucht zu haben, wofür er zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Immerhin hoffte auch der, »dass die Kinder das verarbeiten könnten.«
Was für eine verzerrte Wahrnehmung! Hunter kannte zu viele geschändete Kinder, die den physischen Missbrauch zwar überstanden hatten, aber nicht die Gewalt an ihrer Seele. Kinder, denen für immer etwas Zentrales genommen worden war, was ihnen die so wichtige Bodenhaftung gab. Kinder, die später im Leben privat oder beruflich scheiterten. Immerhin wurde jener Soldat in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen und würde nie wieder Kindern Schaden antun können.
Und was ist mit denen, die ihre Strafe abgebüßt haben und vielleicht sogar vorzeitig wieder freikommen? Hunter kannte die hohe Rückfallquote bei Triebtätern. Er dachte an seine dreizehnjährige Enkeltochter Marta in Wiesbaden, die ihm angesichts seiner überbordenden Sorge, sie vor Missbrauch im Netz und auf der Straße zu schützen, inzwischen vorhielt, dass er sie nerve. Wie sollte sie auch wissen, was er täglich erlebte. Er konnte nicht einmal ermessen, ob und wie tief sie mit ihren vielen Chat-Gruppen auch über Sexthemen im Gespräch war.
Hunter verließ den Bahnhofsbereich, marschierte in den Ort hinein und tat so, als würde ihm der Dauerregen nichts ausmachen. Er besah seine ledernen Wanderschuhe, sie schienen dicht zu sein, trotzdem vermied er die tiefen Pfützen. Die Jeans waren durch den Poncho einigermaßen geschützt wie auch der Rucksack, von dem es hieß, dass er regendicht sei, was allerdings noch zu beweisen war. Hunter konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so penibel seine Ausrüstung geprüft hatte. Aber der Jakobsweg war auch seine erste größere Wandererfahrung, die auf keinen Fall an einer falschen Ausrüstung scheitern sollte.
Plötzlich rannten die Menschen los. Sie hatten das Pilgerbüro entdeckt, in dem es die begehrten Pilgerpässe gab. Hunter nahm das belustigt zur Kenntnis und folgte dem Weg zum vorgegebenen Treffpunkt, dem von ihm reservierten Hotel Pilgrim . Seine Hand glitt wieder einmal prüfend nach rechts unten. Die Dienstwaffe saß fest im Holster. Er fasste auf seinen Gürtel, aus dem das dort versteckte GPS-Modul stets seine Position an Heike Rauch in Wiesbaden meldete. Er hatte nun – ein Tag vor dem anberaumten Treffen – genügend Zeit, sich auf den Jakobsweg einzustimmen.
»Monsieur Ballhaus, willkommen in Saint-Jean-Pied-de-Port.« Der Portier gab Hunter die Nummer für sein Bett und führte ihn mit anderen Pilgern in den Schlafsaal. Hunter hatte auf ein Einzelzimmer gehofft, aber die schien es gar nicht zu geben. Das Hotel war für Pilger ausgelegt, die täglich in großer Zahl an- und abreisten.
Er überflog den Raum und schätzte ihn auf dreißig Schlafplätze. Auf vielen war bereits Gepäck gelagert. Er registrierte ein Kommen und Gehen in einem internationalen Sprachmix. Hunter beließ es bei einem freundlichen Bonjour . Er sah sich um. Vermutlich war er nicht der Einzige der Gruppe ROSE , der bereits am Vortag anreiste. Der mit Stockbetten gefüllte, große Raum machte einen sauberen Eindruck, der sich durch einen kurzen Blick in die sanitären Anlagen bestätigte.
Neben ihm unterhielt sich ein Paar auf Deutsch. Der Mann stützte sich auf seinem Gehstock ab und sah ihn unvermittelt interessiert an.
Hartmann … »Das musste Dr. Johannes Hartmann sein, der Internatsleiter von Maria Hilf« , dachte Hunter. Der Mann sah kränklich aus, aber kein Zweifel: Er war es.
Hunter lächelte freundlich zurück, legte seinen Rucksack ab und verließ das Hotel. Auf keinen Fall Kontaktsuche heute! Seine Mission würde morgen Abend um 18:00 Uhr als Gerd aus Deutschland starten. Allerdings gab er die Nachricht über das Eintreffen von Hartmann in Begleitung einer von ihm präzise beschriebenen Frau an Wiesbaden durch.
»Augenblick, habe ich gleich«, sagte Heike.
Wenig später sah er das Foto auf dem Handy.
»Ja, Treffer, Heike, das ist sie.«
»Christiane Hartmann, Verwaltungsangestellte im Internat, seine Schwester. Unverheiratet, keine Kinder, nicht vorbestraft, keine Besonderheiten. Was will die denn auf eurem Ausflug?«
»Das wird sich zeigen, Heike. Doch so wie er ausschaut, braucht er wohl eine Krankenschwester.«
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