Das Ende der Wehrpflicht, der Abzug uniformierter Soldat*innen aus dem öffentlichen Raum in den meisten Ländern des Westens (daher das Erstaunen in Frankreich, als mit Sturmgewehren Bewaffnete zum Schutz der Bevölkerung vor Terroranschlägen in den Straßen zu sehen waren), ein auch für die meisten Soldat*innen schwindendes Risiko, im Kampf zu sterben: »Wohin sind all die Soldaten verschwunden?«, fragte der amerikanische Historiker James Sheehan bereits vor 10 Jahren in einem Buchtitel. 1Wenn sich die Gewalt des Krieges auch insgesamt aus der westlichen Welt zurückgezogen hat – mit Ausnahme der Terroranschläge, die regelrechte »Kriegswunden« hinterlassen –, so ist sie zugleich omnipräsent auf unseren Bildschirmen und ruft widersprüchliche Reaktionen wie Fassungslosigkeit und Banalisierung hervor. In den 1990er Jahren brachten die ethnischen Säuberungskampagnen im ehemaligen Jugoslawien wieder Bilder von Massenmorden zurück, die man vom europäischen Kontinent verbannt glaubte. Am 18. November 1991 wurde das kroatische Vukovar nach siebenundachtzigtägiger Belagerung durch Bombardement beinahe vollständig dem Erdboden gleichgemacht – als erste europäische Stadt seit 1945. Beim Völkermord an den Tutsi in Ruanda, der zwischen April und Juli 1994 stattfand, wurden wir zu Zeitgenossen der planmäßigen Ermordung von 800 000 bis 1 Million Frauen, Männern und Kindern auf Grundlage ethnischer Kriterien. Aktuell kommen aus dem Bürgerkrieg in Syrien, der laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seit März 2011 über 350 000 Menschenleben gekostet hat, regelmäßig Nachrichten über eine Zivilbevölkerung, die unter Bomben begraben wird und die Giftgasangriffen, der Repression des Regimes Baschar al-Assads oder der Gewalt der Rebellen und Dschihadisten zum Opfer fällt. Schätzungen zufolge gibt es 6 Millionen Vertriebene innerhalb Syriens und 5,6 Millionen Syrer*innen, die in die Nachbarländer, insbesondere in die Türkei, in den Libanon oder nach Jordanien geflohen sind: Es handelt sich um die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.
Wie wir Krieg führen, wie wir ihn erfahren und wie wir ihn darstellen, sind die zentralen Themen des vorliegenden Werkes. Es geht um das Erbe zweier entscheidender Jahrhunderte: des 19. und des 20. Jahrhunderts. Von den Konflikten der Französischen Revolution und des Kaiserreichs bis in die Gegenwart hat sich der Krieg nicht nur in seinen Dimensionen, sondern auch seiner Natur nach verändert. Was wir »modernen Krieg« nennen – und was eher aus einer chaotischen Entwicklung als aus einer präzisen Abfolge von Entwicklungsschritten im Zeitalter der Nationalstaaten und Kolonialreiche hervorgegangen ist –, zeichnet sich durch eine immer umfassendere Einbeziehung der Bürger*innen in die Landesverteidigung, durch weitreichende Veränderungen der Bewaffnung und durch eine Auflösung des raumzeitlichen Rahmens der Kriegserfahrung aus – und zwar in einem Maße, dass die Begriffe »Schlacht« und »Schlachtfeld« im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre traditionelle Bedeutung eingebüßt haben. Darüber hinaus charakterisieren ihn ein höheres Maß an Gewalt für Kämpfende und für die Zivilbevölkerung (ein Bruch, der von den Zeitgenoss*innen als solcher wahrgenommen wurde), ein Verschwimmen der ohnehin schon porösen Grenzen zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen, eine beispiellose Mobilisierung der Gesellschaft, Umweltzerstörung, wie es sie in der Vergangenheit nicht gegeben hat, aber auch die Erarbeitung völlig neuer Rechtsrahmen und Rechtsverfahren. Besonders im Zeitraum zwischen 1860 und 1960 kam es zu einer technologischen Revolution, die entsetzliche Folgen hatte. Niemals war der Krieg in seiner fürchterlichsten vorstellbaren Form (Angriffe auf Städte aus der Luft, unmittelbare Vernichtung der gesamten Bevölkerung, Waffen, die ohne sichtbare Verletzungen töten) mit einer so erschreckenden Effizienz geführt worden. Mehreren Generationen schrieb er den Massentod ins Bewusstsein. Seit 1914 haben die Kriege 120 bis 150 Millionen Todesopfer gefordert, 40 Millionen davon Soldatinnen und Soldaten – das entspricht 8 bis 10 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 1900.
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Dieses Buch zeichnet die Geschichte eines Wandels nach, der das Leben der Menschheit in weniger als zweieinhalb Jahrhunderten komplett umgewälzt hat. Nichtsdestotrotz ist es eine , nicht die Geschichte des Krieges: Hinsichtlich Narrativ und Begrifflichkeiten wären andere Entscheidungen möglich gewesen, hätte der Akzent statt auf eine thematische auf eine chronologische Darstellung gelegt oder wiederum die Strategie, die internationalen Beziehungen oder die Diplomatie in den Vordergrund gerückt werden können. Ohne diese Aspekte zu vernachlässigen, widmet sich dieses Werk mit gleicher Aufmerksamkeit Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen, der Front und dem Hinterland. Denn tatsächlich ist der Krieg unserer Epoche durch die Beteiligung der Nichtkombattant*innen am Kriegsunterfangen und durch die zunehmende Zahl von Zivilist*innen unter den Opfern charakterisiert.
Ausgangspunkt ist unsere Überzeugung, dass der Krieg eine gesamtgesellschaftliche Tatsache ist und außerdem ein kultureller Akt . Natürlich ist er das Geschäft der Staatslenker*innen und Militärs, doch er nimmt auch umfassender die Gesellschaften und die Individuen in die Pflicht. Er erschüttert die politischen und sozialen Institutionen, mobilisiert in manchmal beispiellosem Ausmaß ökonomische und ökologische Ressourcen, verbraucht selbstverständlich militärische Mittel und gibt – ebenso notwendig – mächtigen Affekten, Selbst- und Feindbildern sowie bestimmten Vorstellungen von Leben und Tod Gestalt. Den Krieg studieren heißt, ein grundlegendes Element im Leben der Gesellschaften und die häufig einschneidendste Erfahrung im Leben von Menschen zu studieren. Der Krieg ordnet die Machthierarchien zwischen den Ländern neu – wie der Aufschwung der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges zeigt – und bekräftigt die hoheitlichen Funktionen der Staaten; er verändert die Geschlechterverhältnisse und beschleunigt sozialen Wandel (um nur ein Beispiel zu nennen: die Einrichtung des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg). Der Krieg zerstört Landschaften, hinterlässt seine Spuren auf Körpern und Seelen, bürdet den Älteren die Trauer über die Jüngeren auf, bringt neue Gedenkrituale hervor und produziert Traumata, die über mehrere Generationen fortwirken können.
Wir wollten diese Geschichte des Krieges vom 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit auf globaler Ebene darstellen, zumindest soweit das beim gegenwärtigen Wissensstand möglich ist. Seit den 1970er Jahren, insbesondere seit dem Erscheinen des Hauptwerkes des britischen Historikers John Keegan, Das Antlitz des Krieges , haben sich die Fragestellungen und die Art, die Geschichte des Krieges zu verstehen und zu schreiben, grundlegend geändert. Die traditionelle Geschichte der Strategen, Staatsmänner und Diplomaten ist durch eine Sozial- und Kulturgeschichte der einfachen Soldat*innen, dann auch der Zivilist*innen (besonders der Frauen) und schließlich durch eine Geschichte dessen erweitert worden, was Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen verbindet und was man »Kriegskulturen« nennt, oder anders gesagt die Repräsentationssysteme, die den Konflikten ihre eigentliche Bedeutung geben. Die Schlacht selbst, dieser Fetisch der Militärgeschichte, wird mit dem frischen Blick der historischen Anthropologie erkundet. Im Zentrum steht der Kampf, also das Aufeinanderprallen der Körper, das Lärmen der Waffen, die Versehrungen und die Toten, aber auch das ganze feine Spektrum der mit dem Krieg verbundenen physischen Empfindungen und Emotionen. Im Gefolge der Körper- und Medizingeschichte, der Geschlechtergeschichte, der Kunstgeschichte und Umweltgeschichte erfindet sich die Kriegsgeschichtsschreibung immer wieder neu, wobei die Wege, die sie beschreitet, stark von den nationalen historiografischen Traditionen abhängen. Mit ihren 57 Autor*innen aus Europa und Nordamerika, Historiker*innen, Anthropolog*innen, Kunsthistoriker*innen, Soziolog*innen und Politikwissenschaftler*innen aus verschiedenen Traditionen und Generationen, bietet diese Sammlung ein reiches Panorama. Selten dürfte ein einzelnes Werk eine solche Vielfalt an Perspektiven versammelt haben.
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