Vor ihren Augen zog ruckweise die Handlung des Films vorüber — und was dazwischen noch ungedreht war, das las sie ohne Übereilung im Manuskript nach: alles war sauber und raffiniert um Lydia Keriël herumgeschneidert. Doktor Florian war kein Genie, nein, das war er nicht. Isabel wunderte sich, dass Dareen nichts Besseres zu drehen hatte als diese erlogene Geschichte unter reichen Spielern und Hochstaplern.
Die Diva allerdings hatte ihre Glanzrollen darin, die junge und die alte — und das mochte der Zweck der Übung sein. Ob sie wirklich eine so grosse Künstlerin war, wie Dareen glaubte — — und wie Heino es mit sieben Eiden beschwor? Dummer Bub! dachte sie ingrimmig, dummer, lieber Bub!
Ein paar Doppelaufnahmen, auf denen die Keriël in beiden Rollen gleichzeitig im Bilde war, hielt sie neugierig ins Licht. Es war nicht das geringste zu entdecken, und Isabel hätte gerne gewusst, wie Michel derartige Tricks ausführte. Heute waren ja auch solche Aufnahmen. Sie musste Koll noch seinen Zettel bringen, dass er die Regenspritzer kopieren solle. So ging sie wieder in die Halle hinüber.
Über dem Glasdach strahlte der besonnte Himmel, eine dumpfe Schwüle floss in Wellen herab und mischte sich mit der schier versengenden Glut der zahllosen Lampen. Dareen stand in Hemdsärmeln, sein Gesicht war wie in Fett getaucht. Er liess eine der schwierigen Doppelszenen probieren. Isabel blieb im Hintergrund stehen und schaute zu.
Es sah seltsam aus. Um die Spielbank wogte eine flimmernde Menge — doch nur auf der einen Seite, die andere blieb völlig leer. Lydia Keriël war nicht unter den Darstellern: die Ärmste musste sich heute elfmal umkleiden, umschminken und umfrisieren ... Mit ihrer Kraft sollte sparsam umgegangen werden, und Dareen hatte an Hand von Skizzen schon in Monte Carlo mit ihr Szene für Szene bis in die kleinste Einzelheit probiert. An Stelle der Diva markierte eine alte, widerwärtig hässliche Schauspielerin, die eigens für diesen Zweck engagiert war und sich sehr geschickt bewegte.
Lydia Keriël kam aufgelöst und müde aus ihrer Garderobe, ging wortlos vorüber und setzte sich an den Flügel, an dem sie gewohnheitsmässig ihre zappelnden Nerven beruhigte. Dareen winkte auf Michels Wunsch die Probe ab, verbesserte die Stellung einiger Komparsen, die der Grenzlinie der Doppelbilder zu nahe kamen, und liess die Szene noch einmal spielen. Tamaroff, der im Bilde stand, rang die Hände: „Ist siebtesmal probieren, Herr Dareen.“
Der Bucklige stand schwitzend neben seinem Apparat. Isabel bat ihn leise um Aufklärung. Eigentlich hätte er auf die Szene achten müssen, aber weil Isabel es war, die ihn störte, so nickte er erfreut. „Die eine Bildhälfte, auf der jetzt bloss das alte Scheusal steht — ich meine natürlich nicht Frau Keriël — also die eine Bildhälfte habe ich schon belichtet im Apparat, Fräulein Gynthenburg“, flüsterte er. „Darauf war unsere jrosse Lydia so, wie sie ist, nämlich zirka vierzig Lenzlein. Jetzt habe ich das Negativ zurückgerollt — verstehen Sie, Fräulein?“
„Nein“, sagte Isabel.
„Also weiter! Gleich wird die andere Bildhälfte gedreht: darauf ist die Gnädige so, wie sie sein möchte, weil sie meint, dann imponiert sie Herrn Dareen mehr: nämlich eine zarte Knospe von höchstens neunzehn Blütenträumen. Wer’s glaubt, wird selig — meinem Kasten kann man nämlich nichts vorschwindeln —, aber die Dummen werden nicht alle. Übrigens: Obacht — die Sache wird interessant“, und er zeigte mit dem Finger auf Lydia Keriël, die selbstvergessen träumend am Flügel sass. Dareen stand jetzt neben ihr, sein Gesicht lächelte, er beugte sich zu ihr nieder. „Darf ich bitten, Lydia. Wir fangen an.“
Die Keriël schloss die Augen, ihr Kopf machte eine unwillig abwehrende Bewegung: „Lassen Sie mich, ich bin noch nicht in Stimmung“, sagte sie ziemlich laut. Das ganze Glashaus sah herüber; auch der Generaldirektor, der stumm im Hintergrund die Elfenbeinzigarette zwischen den Zähnen hielt, spitzte die Ohren. Es gab zuweilen kritische Augenblicke, in denen die Diva nicht spielen wollte — und jeder lauerte, wie Dareen diesmal bestehen würde.
Der Regisseur stützte den Ellenbogen auf den Flügel, über sein hageres Gesicht flog ein träumender Glanz. Alle sahen es, er schien andächtig der Musik zuzuhören. Seine Lippen bewegten sich kaum: „Wenn Sie in einer Minute noch nicht in ‚Stimmung’ sind, Lydia — dann blase ich die ganze Aufnahme ab.“
Es war schon einmal nötig gewesen, dass er diese Drohung wahr machte, und Keriël hatte seiner Schwester dafür eine Riesensumme vom Honorar abgestrichen, aber Dareen hatte die andere Hälfte der verpulverten Unkosten tragen müssen. Sie wusste also, dass er ohne jedes Zögern ausführte, was er sagte — — und spielte mit unbewegtem Gesicht weiter. Dareen hörte ihr wie selbstvergessen zu. Sie spielt wirklich schön, dachte er voller Erwartung.
Etwas wie ein Ausklang ertönte, Lydia liess ihre Hände sinken und erhob sich. Ihre Augen glänzten fiebrisch, lagen hingegeben in den seinen — und ihrer beider Blicke verfingen sich und tauchten für eines Herzschlags Frist unergründlich ineinander.
Das ganze Atelier staunte, denn niemand hatte Dareens Worte hören können. „Wie hat er das bloss mal wieder gemacht?!“ flüsterte Keriël dem grinsenden Tamaroff ins Ohr. Da kam Dareen, er führte seine Spielerin am Arm — in seinen Mienen lag auch nicht der Schatten eines Triumphes.
Es war so heiss, dass vier Friseure vor der Aufnahme herumlaufen mussten, um den Darstellern die gelben, schmutzigen Schweisstropfen von den geschminkten Gesichtern zu tupfen. Mit ihren Handtüchern fingen sie bei den Hauptdarstellern an und endigten bei den kleinsten Komparsen. Isabel sah es und krümmte angewidert die Lippen: da war es in ihrem Kleberaum denn doch appetitlicher ...
Als die Aufnahme vorüber war, liessen sich die „Kanonen“ aufseufzend in umherstehende Sessel fallen. Aus der Kantine wurde Eissorbet für die Solisten und Eiskaffee für die Komparsen herumgereicht. Dareen sah Isabel und nickte ihr freundlich zu: nach ihrer Arbeit brauchte er sich nicht zu erkundigen, seine Kleberin war stets zur Minute fertig, so dass er ihr jede Freiheit lassen konnte.
Beiseite stand immer noch, zwecklos und ungeduldig wartend, die Grellblonde. Als Kilian Koll ermattet vorbeikam, hielt sie ihn energisch am Arm fest: „Sagen Sie mal, Koll: wann kommt denn eigentlich meine Aufnahme?“ Sie bemerkte wohl, dass Dareen einen Augenblick unwillig hinübersah, aber Koll blätterte in seinen Papieren: „Bedaure, Fräulein van Zuiden — die Szenen sind umgestellt worden, Sie kommen erst am Nachmittag dran“, und er wollte weiter — aber die Dame fragte ihn nach tausend Kleinigkeiten und liess ihre Augen so verführerisch plänkeln, dass der Hilfsregisseur ihr nicht ungern zuzuhören schien.
Isabel wollte ihren Zettel abgeben und wieder an ihre Arbeit zurück. „Bitte zu entschuldigen, Herr Koll, ich habe Ihnen — —“ Aber weiter kam sie nicht, denn die Schauspielerin schrie sie wütend an: „Was fällt Ihnen ein, Sie unverschämte Person, jetzt spreche ich mit Koll!“
Derartiges glitt von Isabel ab. „Bedaure,“ sagte sie kühl und hob die Brauen, „ich habe dienstlich mit Herrn Koll zu reden!“
„Scheren Sie sich in Ihren Kleberaum, Sie!“ fauchte die Filmspielerin mit wutzischenden Blicken. Auf diesen Ton hatte Isabel nichts zu erwidern — solche Gemeinheit gibt es nur beim Film, dachte sie schutzlos. Aber Dareen kam ihr zu Hilfe.
„Ruhe!“ schrie er zornig und sprang aus seinem Sessel. „Fräulein van Zuiden — was haben Sie meine Kleberin derartig anzuschnauzen?“ Isabel neigte kurz das Köpfchen und ging in ihr Klebezimmer.
Ihre Hände zitterten, sie fühlte sich angespien. Heino hatte recht, der soziale Sturz ward zur Schande, denn: das Herz blieb hochmütig und wollte sich nicht in die untergeordnete Stellung fügen.
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