Isabel war nach der Nummer kaum ein wenig erhitzt, sie schlenderte gemächlich an den Wohnwagen heran. Es hatte ihr Spass gemacht, sich zu überzeugen, dass sie noch etwas vom Seiltanzen verstand.
Kathi Gehrke trat ihr entgegen. „Ich danke Ihnen, danke Ihnen herzlich! Aber wer sind Sie? Doch was frage ich, Sie sind eine Kollegin von Rang?“
Isabel zuckte lächelnd die Schultern. „Wenn Sie mir eine Kostüm geben, will ich auch an das Trapez für Sie arbeiten!“
Die Frau nickte eifrig. „Gottlob, dass es einmal ohne mich geht! Auch habe ich in letzter Zeit immer Angst, wenn ich oben auf der Schaukel sitze. Meine Nerven sind herunter!“
Das Kostüm passte schlecht, aber Kathi Gehrke steckte es geschickt zusammen, und der Clown hielt das Seil, an dem sich Isabel federnd leicht hochwand. Schon hatte sie den luftigen Sitz erreicht und warf Kusshände ins Publikum. Diesmal hatte sie Gesicht, Arme und Hals etwas mit Puder bestäubt.
Der Leierkasten spielte: „O du himmelblauer See,“ und Isabel Herbert flog durch die Luft, hing mit dem Kopf nach unten und schlug Rad am Trapez. Alles geschah mit Grazie und Leichtigkeit, das Publikum schrie laut „Bravo!“ und der Beifall wuchs zum Enthusiasmus.
Der Clown schluckte vor Erregung. Das, ja, das war Kunst, war Können! Armselige Stümper waren Kathi und er, und deshalb wurden die Einnahmen auch immer kärglicher. — Mit so einem Mitglied wie der Fremden käme man wieder aus dem Dreck!
Isabel war jetzt wieder unten. Sie knickste, warf Kusshände in die Runde.
Max Gehrke fiel ein, dass man das Eisen schmieden musste, solange es heiss war. Er drückte ihr einen Blechteller in die Hand.
„Bitte, sammeln Sie ein, mir geben die Leute doch nicht viel.“
Isabel lachte und ging mit dem Sammelteller umher.
Ihr war so glücklich und froh zumute. Sie hatte ein wenig die Gelenkigkeit ihrer Glieder erproben können und durfte zugleich armen Menschen Gutes erweisen.
Fast jeder gab dem bildschönen Mädelchen, und der Clown schlug indessen Purzelbäume, trieb allerlei Possen.
Isabel konnte der verhärmten Frau einen ziemlich gut gefüllten Teller abliefern.
Kathi Gehrke sagte staunend: „Es sind doch gar nicht so viele Menschen da, aber eine solche Einnahme hatten wir seit langem nicht.“ —
Isabel entledigte sich des geflickten und gestopften Gewandes, versprach am nächsten Vormittag wiederzukommen und schlich sich auf einem Umwege heim. Sie musste vorsichtig sein, niemand sollte merken, dass sie nicht zur Arena gehörte.
Am nächsten Morgen, nachdem die Tante ihren Brunnen getrunken und sich mit einem Buche auf dem Balkon niedergelassen hatte, machte sich Isabel unter dem Vorwand, Schreibpapier einkaufen zu wollen, davon.
Auf Umwegen erreichte sie den Standplatz des Zirkus Gehrke. Sie wurde jubelnd von Vater, Mutter und Kind begrüsst. Fragen stürmten auf sie ein. Sie lachte nur und freute sich, dass man ihr so viel auf den Sammelteller geworfen.
Mariechen lag wieder auf dem Bett, sie sagte schüchtern: „Vater meint, wenn Sie noch ein paarmal bei uns auftreten würden, wären wir aus der Not.“
Ihre Mutter hielt ihr die Hand auf den Mund und ward rot. „Verzeihen Sie, Fräulein, man redet das so hin.“
Max Gehrke drehte an seinen Rockknöpfen. „Ach, wir wollen doch ehrlich sein! Wirklich, Fräulein, wenn es Ihnen möglich wäre, heute und morgen abend noch mitzuarbeiten, dann wäre das für uns eine sehr, sehr grosse Hilfe. Es fehlt uns am Notwendigsten!“
Isabel hob leicht die Hand. „Ich arbeiten ’eute und morgen mit. Wenn Sie wollen, dann ich reite tambien. Ich muss aber erst weissen, was das Pferd kann.“
Mann und Frau tauschten einen zufriedenen Blick. „Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen ‚Schneewittchen‘, so heisst nämlich unser Schimmel!“
Isabel setzte ihren Hut ab und bat Kathi Gehrke um einen einfachen, alten Mantel. Sie durfte draussen nicht auffallen, es konnten Leute vorübergehen, und man sollte glauben, sie gehöre zum Zirkus.
Die Frau begriff und hing Isabel einen von Sonne und Regen fahlen Mantel um.
Draussen standen ein paar Kinder herum, von weitem tauchte ein Herr auf.
Isabel streichelte das Pferd, klopfte seinen Hals und sass plötzlich oben, ohne dass das Ehepaar begriff, wie sie da hinaufgekommen war. Sie sass auf dem ungesattelten Pferde und glitt wieder herunter, als sei das die einfachste Sache der Welt.
„Ich will ‚Schneewittchen‘ satteln!“ rief Gehrke.
Ein junger Mann, der als Kutscher und Schlangenmensch das einzige Mitglied des Zirkus war, das nicht zur Familie gehörte, starrte Isabel verwundert an und half das Pferd satteln.
Isabel blickte sich um. Die paar Kinder als Zuschauer rechneten nicht, die Gestalt des Herrn aus der Landstrasse war verschwunden, er war wohl in den Waldweg eingebogen. Sie legte den Mantel auf eine Bank und bestieg das Pferd, das innerhalb der Bahn sofort in die gewohnte Gangart verfiel.
Isabel wäre ein bisschen mehr Temperament lieber gewesen, aber es war schon schön, wieder einmal auf einem Pferderücken zu sitzen. Mit „Schneewittchen“ wurde sie bald einig, das gute Tier dachte nicht daran, ihr irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten.
Am Waldesrand aber, hinter einer dicken Buche, stand der Gutsbesitzer Lothar von Brandt und sah dem Schauspiel zu, das sie ihm bot.
Er war erst gestern abend angekommen, um seine verheiratete Schwester, die Frau des berühmten Bildhauers Potter, hier zu treffen, die in Berlin wohnte und mit einer Freundin in Soden zur Kur weilte. Diese Freundin kannte Lothar von Brandt schon von Berlin her, und er wusste, sein Schwesterchen dachte ernstlich an eine Heirat zwischen ihm und der hübschen, koketten Gisela Rehren.
Abgeneigt war er dem Plane nicht. Gisela Rehren war aus sehr guter Familie, reich, hübsch und anscheinend sehr in ihn verliebt! Also weshalb nicht? Er liebte sie zwar nicht, aber sie gefiel ihm, und zur Liebe besass er überhaupt keine Befähigung, sagte er sich, sonst wäre er nicht dreissig geworden, ohne bisher das geringste davon empfunden zu haben.
Um zehn Uhr wollte er sich mit seiner Schwester Greta und ihrer Freundin treffen, um eine kleine, gemeinsame Promenade vor Tisch zu machen. Aber ihm war die Zeit bis dahin zu lang geworden.
Er war einer der reichsten Gutsbesitzer Rheinhessens und war es gewöhnt, schon des Morgens in aller Herrgottsfrühe hinauszuwandern oder zu reiten. Es hatte ihn nicht im Hotel gehalten.
Er stand jetzt hinter dem Baum und machte seine Beobachtungen. Er fand, die Kleine im weissen Kleid, die dort anscheinend ihre Zirkusprobe abhielt, war reizend. So ein entzückendes Mädelchen hatte er noch nie gesehen, dünkte ihm. Und reiten konnte das niedliche Geschöpfchen auch. Allerhand Achtung! Er verstand doch etwas davon!
Gisela Rehren konnte nicht reiten, das störte ihn an ihr.
Isabel liess das Pferd galoppieren, sprang ab, stand wieder auf seinem Rücken, und dann machte sie plötzlich halt, wickelte sich in den hässlichen, alten Mantel und ging zum Wohnwagen.
Sie hatte beim Herumjagen vom Pferd aus bemerkt, dass da eine hohe Männergestalt hinter einem Baum am Waldesrande stand und ihr zusah.
Nun sass sie wieder mit dem Ehepaar am Bett des Kindes. „Ich will ’eute und morgen bei Sie arbeiten, wie ich ’abe versprecht, aber Sie werden keiner Mensch sagen, wer ich bin.“
„Das wissen wir ja auch gar nicht,“ unterbrach sie Kathi Gehrke.
„Sie brauchen das auch nicht wissen!“ lachte Isabel. „Wenn aber einmal würde jemand fragen, wer ich bin, Ihre Mann muss sagen: Meine ‚Mujer‘ ’at alles gemacht, mein Gemahl! Es wird keiner Mensch nach mir fragen, ich denke das. Aber ich will, Sie müssen mir das versprechen.“
Das Ehepaar gelobte es — ebenso Mariechen.
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