Tine fing plötzlich auch an zu schluchzen.
Die Geheimrätin gab Isabel frei, blickte erstaunt auf die Dicke. „Was ist Ihnen, Tine, was fehlt Ihnen denn?“
Tine Mottebusch würgte schwer atmend hervor: „Ich bin so gerührt, es tut mir jetzt auch leid, dass der arme Tiger sterben musste.“
Helene Kornelius schüttelte verblüfft den Kopf, aber wenn sie ganz ehrlich sein wollte, auch ihr waren die Tränen nahe. Doch nicht des Tieres wegen, eher schnitt ihr Isabels Jammer ins Herz, und ähnlich mochte es auch wohl Tine gehen, ohne dass sie sich darüber klar ward.
Sie nahm Isabel den kleinen, dunkelgrauen Seidenhut ab. So, jetzt kam das mattblonde, leicht gewellte Haar zur vollen Geltung. Wie reizend die Nichte war, vor deren Ankunft sie sich gefürchtet hatte! Ganz Worms würde sie um diese entzükkende Nichte beneiden!
Aber vorläufig brauchte sie hier noch nicht allzu viele Menschen kennenzulernen. Jetzt war man in der Reisezeit, sie selbst wollte zur Nachkur einer Halsentzündung nach Bad Soden am Tounus, dorthin würde sie Isabel mitnehmen, und im Herbst konnte sie dann in die hier sehr nette Gesellschaft eingeführt werden.
Sie freute sich jetzt, dass ihr der Bruder sein Kind schickte. Sie legte ihren Arm um Isabels Schulter. „Komm, Isabel, ich zeige dir deine Zimmer.“
Isabel rief: „Oro!“ Das Äffchen sprang im Bogen auf ihre Schulter, und Tine guckte noch lange auf die Tür, hinter der die drei verschwunden waren. Sie stand, und ihre grauen Äuglein hatten einen ganz verzückten Glanz. „Isabel!“ sagte sie leise vor sich hin, und wie sie den Namen aussprach, glich er einem Streicheln, einer Liebkosung.
Isabel hatte sofort das Herz der beiden alternden Frauen gewonnen, die Lieblichkeit ihres Äussern, ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen, alles zusammen verband sich zu einem fremdartigen und doch echten, natürlichen Zauber, der so leicht für sich einnahm. Isabel Herbert gehörte zu den Menschen, denen man nur schwer böse sein kann, und denen man leicht vergibt.
Schon acht Tage nach Isabels etwas merkwürdigem Einzug in das kleine Haus der Geheimrätin Kornelius an der Südanlage in Worms am Rhein reiste die Tante mit ihr nach Bad Soden. Tine musste das Haus hüten. Der Affe durfte mitreisen.
Bei einer Familie, die nie mehr als zwei Kurgäste gleichzeitig aufnahm, fanden sie Unterkunft — in einer Villa gegenüber dem Kurpark.
Für Helene Kornelius war die Wohnung sehr bequem. Sie konnte vom Balkon aus der Kurmusik lauschen, und Isabel sass dann bei ihr und erzählte von der Heimat.
Ihre Tante hörte ihr gern zu, ihr drolliges Deutsch belustigte sie. Aber manchmal war sie sprachlos, wenn sie hörte, was dieses schmale, blonde Mädelchen schon alles erlebt hatte.
Isabel geriet, wenn sie so erzählte, manchmal in helle Begeisterung. Sie sassen dann beide in bequemen Liegestühlen auf dem Balkon, die Musik im Kurpark spielte die letzten Nachmittagsstücke, und Isabel plauderte von drüben.
„O, Tante ’Elene, meiner Vater ’at einer Zirkus, der ist berühmt in ganz Amerika, und wenn es ’eisst, der Zirkus ’Erbert ist da, rennen die Leute ’in. In Los Angeles ’abe ich vor drei Jahre zwölf dressierte Rappen vorgeführt, die Menschen ’aben mir gerufen, bis ich müde war von der Dank. In Toronto ’abe ich mit zwei Löwen ein Spiel gezeigt, da waren alle verrückt.“
„Wo liegt denn Toronto?“ fragte Helene Kornelius. Den Namen hatte sie noch nie gehört.
Isabels rote Lippen umspielte ein kleines Lächeln. Die Tante fragte oft: „Wo liegt dies und wo liegt das?“ Sie wusste von Amerika nur, dass es dort eine Stadt gab, die Neuyork hiess, und eine San Franzisko und eine andere Philadelphia. Bei allen anderen Namen horchte sie auf.
„Toronto ist eine sehr grosse Stadt in Kanada,“ erklärte sie. „O, wir sein viel gerist. Ich war in Habana, das ist die Hauptstadt von Kuba, und in Washington und St. Louis und in Cincinnati, auch in viele Städte von Argentinien und Brasilien. Ich ’aben viel, viel gesehen, aber ’ier sein alles so anders wie drüben überall.“ Ihre Augen bekamen einen schwärmerischen Glanz. ‚,’ier ist es so ein anderes Luft, und man ist davon sehnsüchtig, und ich ’aben in Deutschland gar nicht Lust für ein bisschen Wildes, und das ’aben ich drüben doch am oftesten gemacht. Siempre, siempre. Es war schön, Wildes machen!“
Helene Kornelius atmete auf. Es war gut, wenn Isabel keine Lust verspürte für ein bisschen Wildes. Ihr lag nichts an Aufregungen!
Ein Weilchen nach dem Abendessen, das man im Haus einnahm, legte sich Helene Kornelius stets zur Ruhe. Der Arzt hatte es so vorgeschrieben, die Abendluft, so lau sie hier auch war, sollte ihr noch immer empfindlicher Hals meiden.
Isabel langweilte sich. Oro war eine Schlafmütze. Gleich nach dem Abendbrot sank er auf sein Kissen, und Isabel wusste allein nichts anzufangen.
Ihre Tante hatte grossen Abscheu gegen Badebekanntschaften, und so schlenderte denn Isabel meist im Garten herum, seltener über die Promenaden. Das Angestarrtwerden störte sie, aber dem war ihre vornehme Schönheit sehr ausgesetzt. Am liebsten ging sie erst am Abend aus.
So auch heute. Und sie musste viel an die Unterhaltung mit der Tante denken, und die Erinnerungen an das Zirkusleben meldeten sich, gaukelten wie bunte Falter, nach denen sie gern gehascht hätte, an ihrem geistigen Auge vorüber.
Sie wanderte hinter dem Kurpark vorbei über Wiesengelände, durch die stille Parkstrasse, wo es eben von der katholischen Kirche acht Uhr schlug. Im selben Augenblick setzte auch die Kurmusik mit einem flotten Marsch ein.
Isabels Körper durchzuckte der scharfe Rhythmus der Marschmusik. Ihr war es, als ginge ihr Lieblingspferd unter ihr, umrase das Manegenrund. Hei hopp! Die Peitsche des Stallmeisters klang! Hei hopp! Sie sprang vom Pferd, eilte ihm nach, flog wieder auf den Pferderücken, stand rückwärts oben. Ihr goldgesticktes, kurzes Kleid wehte. Auf, ab — auf, ab! O, war das schön, war das berauschend!
Sie blieb stehen, schloss die Augen und meinte einen grossen Zirkus zu sehen mit vielen, vielen Lichtern. Tausende sassen um die Manege, und alle schauten zu, was sie konnte. Hei hopp — en avant — en avant!
Akazienbäume standen am Wege. Ihr süsser, schwerer Duft weckte sie wie ein sanftes Streicheln. Sie öffnete die Lider, schaute sich um. Niemand war in ihrer Nähe.
Sie schritt weiter, den Cronberger Weg hinauf, und dort blieb sie plötzlich wieder stehen. Was sie sah, erregte ihre ungeteilte Teilnahme, war wie ein Nachklang zu dem, woran sie vorhin so sehnsüchtig gedacht.
Ein armseliger, kleiner Wanderzirkus hatte sich am Waldesrand niedergelassen. Ein paar Leute sassen auf den rohgezimmerten Holzbänken umher, auf einem leidlich guten Schimmel stand in schmuddeligem Flitterkleid eine magere Frau, deren verhärmte Züge Schminke und Puder nicht zu decken vermochten, ein Clown schlug jämmerliche Purzelbäume. Und alles war eingerahmt von quiekender Drehorgelmusik.
Isabel schlich um den Zirkus herum, und als sie zu dem Wohnwagen kam, hörte sie das wehe Weinen eines Kindes. Sie machte entschlossen die Wagentür auf und sah in dem nur matt beleuchteten Wageninnern auf einem Bett ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren liegen. Sie war schon bei ihm. Das Kind hatte verschwollene Augen, blinzelte ängstlich zu der Fremden auf.
„Warum weinst du, kleine Mädchen?“ fragte Isabel und fuhr dem Kind mit ihrem duftenden Taschentüchlein über die Augen.
„Ich habe mir heute früh beim Üben beide Knöchel verstaucht und muss jetzt stilliegen, kann nicht arbeiten. Mutti muss jetzt noch ein paar Nummern übernehmen, und sie ist doch sonst schon immer so müde.“
„Ist es deine Mutter, die auf der Schimmel reitet?“ fragte Isabel.
„Ja, haben Sie meine Mutti gesehen? Sie ist eine grosse Künstlerin, nicht wahr? Ich werde niemals so reiten lernen wie sie.“ Das Kind strahlte. „Mutti hat ein Kleid mit Silber und Spitzen. Wie die Fee in meinem Märchenbuch sieht sie aus.“
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