Seit er denken konnte, hatte Morava trotz seiner Friedfertigkeit nie Angst gehabt, er war eben ein Schmiedesohn, selbst die großen Jungen fürchtete er nicht, und die kriegten bald sehr wohl spitz, daß er zumindest versuchte, jede Beule mit Anstand zurückzugeben. Obwohl er in seinem Beruf täglich von neuem staunender Zeuge widerwärtiger Schändlichkeiten war, die von Menschen an Menschen verübt wurden, kam ihm nie der Gedanke, selbst einmal Opfer zu werden. Höchst seltsam, aber wahr: Erst die Liebe weckte über Nacht die elementare Angst in ihm.
Er erinnerte sich, wie er als Kind mitten in der Nacht aufgeschreckt war, weil seiner Mutter etwas Schlimmes zustieß. In seinem Flanellnachthemd, feucht vom warmen Schweiß, tappte er zur Tür der Stube, wo das solide Bett der Eltern stand, öffnete sie geräuschlos und spitzte die Ohren, um neben dem lauten Schnaufen des Vaters auch ihren schwachen Atem zu erlauschen. War er sich nicht sicher, dann stahl er sich ans Bett heran, um vorsichtig tastend zu prüfen, ob ihre Hand oder ihr Gesicht auch warm waren. Obwohl sein Vater ein stattlicher Mann war, vermochte Jan sich nicht vorzustellen, wie sie ohne die Mutter überleben könnten.
Zwanzig Jahre später war für ihn der Gedanke ebenso bedrückend, etwas Furchtbares könnte Jitka aus seinem Leben reißen. Wenn sie sich liebten, war der Tod absurd, dann schien ihm, als schüfen sie gemeinsam ein Kraftfeld, das alles abstieß, was nach Unheil roch. Um so verletzlicher wirkte sie, wenn er sie aus seinen Armen lassen mußte, und deshalb verzögerte er die Umarmungen auch über das Weckerscheppern hinaus.
An diesem Märzmorgen trieb vom Vyšehrad, von der Kaiserwiese und von den Pankrácer Feldern her der kräftige Duft der erwachenden Erde bis in ihr Dachzimmer. Seit er in Prag war, wohnte er inmitten der Stadt, so klein und unbequem sein Quartier auch war, konnte er doch nicht genug von ihr haben. Mein Rasen ist jetzt der Asphalt und meine Bäume die Schornsteine, schrieb er einmal nach Hause und vergrämte damit seine Mutter. Es war kein Krampf, er war in die Stadt eingerastet, als wäre sie sein ureigenes Element, nachträglich erkannte er, welchem Unglück er aus dem Weg gegangen war, als er den Bruch riskierte und die elterliche Schmiede nicht übernahm. Das einzige, was er hier gelegentlich vermißte, waren eben die Urgerüche, die ihm seinerzeit zu Hause schon beim Aufwachen den Stand von Natur und Wetter vermittelt hatten.
Die scharfe beißende Witterung, die der Wind herübertrug, verkündete, das wußte er mit Sicherheit, den Augenblick, da die winterliche, dem Nichtsein so ähnliche Starre unversehens nachließ und das Keimen einsetzte, dieses ureigene Zeichen des Lebens. Nie vergaß er, wie ihn sein Großvater einmal in aller Frühe auf den Damm des Dorfteiches mitnahm, um ihm, dem Begriffsstutzigen, nur ein paar Minuten lang mit schwieligem Finger die große zugefrorene Oberfläche zu zeigen, bis sie plötzlich von selbst mit dumpfem Donnern mitten durchriß und das befreite Wasser aus dem Spalt hervorsprudelte.
Morava hätte wetten können, das gleiche Schauspiel habe auch heute früh bei ihnen zu Hause stattgefunden, doch die übliche Freude über das Vergehen des Winters, die den Dörfler auch in der Stadt bis ans Lebensende begleitet, stellte sich nicht ein, im Gegenteil, ihn durchfuhr eine Angst, die um so größer war, je mehr er das Mädchen in seinen Armen anbetete. Mein Liebes, flüsterte er ihr in Gedanken zu, was fange ich an, wenn ich dich verliere? Er verspürte Tränen in den Augen, was ihm seit dem Tod des Vaters nicht mehr geschehen war.
«Du weinst ...?» sagte sie überrascht.
Er nickte stumm.
«Aber warum??»
«Ich habe Angst um dich!»
«Aber warum ...?» wiederholte sie ratlos.
Zum erstenmal sprach er aus, was ihn schon seit langem bedrückte, seit es Beran einmal angedeutet hatte: daß sie beide in der Löwengrube sitzen. Käme der Krieg erst hierher, dann würden weder die Deutschen mit den Protektoratsbehörden liebevoll umspringen noch die Hurrapatrioten, die sich um so rabiater aufführen würden, je mehr Butter sie sich selbst vom Kopf zu waschen hätten.
«Wenn es nach Zusammenbruch aussieht, Jitka, mußt du um jeden Preis weg aus der Bartolomějská!»
«Wohin?»
«Niemals zu den Deinen, dort wird die Front verlaufen, außerdem könntest du in den Fall deines Vaters hineingezogen werden. Du bleibst einfach ein paar Tage hier, schlimmstenfalls im Keller. Ich werde Beran sagen, er soll dich nicht suchen lassen, bestimmt wird er das begreifen. Nur versprich mir, wenn ich gerade nicht hier bin, daß du bei der allergeringsten Gefahr auf mich hörst!»
«Und du ...?» fragte sie verständnislos.
«Ich muß bei ihm bleiben, doch hab keine Angst, ich sorge schon für mich.»
Sie löste sich von ihm, drehte sich auf den Rücken und schob mit ihren jetzt freien Händen das Federbett beiseite. Das Licht in dem kleinen Zimmer hatte zugenommen, und zum erstenmal spürte er sie nicht nur, sondern sah sie auch nackt. Ihr weißer Leib mit den vollen Brüsten und dem schattigen Schoß wirkte noch wehrloser.
«Jan, Liebster, ich werde auf dich hören, aber ich habe auch einen Wunsch.»
«Ja ...?»
Also sprach sie wie eine erwachsene Frau, nie zuvor hatte er sie so gehört, die Strenge der Mütter klang aus ihren Worten.
«Solltest du trotz allem nicht für dich sorgen können, dann will ich wenigstens dein Kind haben.»
Oberkriminalrat Buback erstattete um acht Uhr null null Standartenführer Meckerle Meldung. Er teilte mit, daß an der Leistung der Prager Kriminalpolizei vorerst nichts auszusetzen sei. Sie hatte es im Eiltempo geschafft, einen Bericht über sämtliche sadistischen Morde seit Beginn des Jahrhunderts zusammenzustellen, ja, ihre Kartei reichte tatsächlich bis in die Zeiten der Monarchie zurück.
Drei Wochen nachdem er zum erstenmal in dem Büro Platz genommen hatte, das man für ihn eilends in der Bartholomäusgasse einräumte und wo er fast täglich ohne Ankündigung zu verschiedenen Zeiten erschien, legte er heute die Ergebnisse seiner Beobachtungen vor.
«Im Bereich des Kriminaldienstes habe ich nicht die geringsten Anzeichen von Aktivitäten festgestellt, die den Rahmen ihrer Zuständigkeit überschreiten würden. Hauptkommissar Beran ist offensichtlich seinem Grundsatz aus Vorkriegszeiten treu geblieben, daß diese Sparte Polizei konsequent unpolitisch zu bleiben hat. Diesen Grundsatz verletzt hat, soweit der Gestapo bekannt, allein sein Untergebener, der im Juni 1942 wegen Billigung des Attentats auf Heydrich hingerichtet wurde. Seine Schuld muß mir jedoch zweifelhaft vorkommen, da die Anzeige von einem Konfidenten stammte, den er einmal wegen Betrügereien hinter Gitter gebracht hatte.»
Meckerle, der selbst in seinem maßgefertigten Sessel, in den zwei normale Männer hineingepaßt hätten, fast eingeklemmt war, verzog wissend das Gesicht.
«Jetzt kommt aber das ‹Aber›!»
Buback nickte. Zu den wenigen sympathischen Zügen seines Vorgesetzten gehörte, daß mit ihm schnell zu reden war; Langatmigkeit, gepaart mit Langeweile, machte ihn aggressiv.
«Der Behauptung des Polizeipräsidenten Rajner, daß vor allem die Fachgruppen Loyalität uns gegenüber bewahren, messe ich trotzdem keinen Glauben bei, er selbst weiß einen alten Dreck. Obwohl keiner der tschechischen Kriminalisten ahnt, daß ich sie verstehe, waltet mir gegenüber allgemeine Vorsicht. Meine häufige Anwesenheit hat sie aber abgestumpft, und nicht jeder ist imstande, seine geläufigen Gefühle zu verbergen. Bezeichnend ist die Stimmung morgens, wenn sich die Leute mit neuen Nachrichten begegnen. Sie müssen nicht unbedingt einen Feindsender gehört haben, die Protektoratszeitung reicht ihnen leider auch, denn in den Meldungen des Oberkommandos der Wehrmacht werden immer öfter die Namen von Städten genannt, die im Osten der einstigen Republik liegen. Beim Malzkaffee oder Ersatztee, die dort hektoliterweise gekocht werden, herrscht im ganzen Haus eine geradezu greifbare Begeisterung, manch einer macht sich selbst in meiner Gegenwart nicht mehr die Mühe, wenigstens den Schein zu wahren.»
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