Der Verhaftete hieß Karl Koppius, und in seiner umgehend von der Polizei besetzten Wohnung wurde am anderen Morgen auch sein jüngerer Bruder Fritz festgenommen. In ihnen hatte man das seit zwei Jahren gesuchte Mörderpaar endlich ergriffen. Weber hatte seine Familie von einem Alptraum befreit. Ob er die ausgeschriebene Belohnung erhielt, ist nicht bekannt.
Im Leipziger Schwurgericht begann am 5. Oktober 1910 die Verhandlung über die Verbrechen der Brüder Koppius. Andere als die Leipziger Bluttaten sind ihnen nicht nachgewiesen und wohl auch kaum begangen worden. Der neunundzwanzigjährige Karl, der Bestimmende von beiden, hatte erst als Flaschenspüler, Hausdiener, dann als Kellner gearbeitet und wollte ein Restaurant kaufen. Rennwetten, die ihm mühelosen Gewinn bringen sollten, endeten als Fehlschläge. Aber Spiel und Spekulation hatten in ihm die Sucht geweckt, auf irgendeine Art rasch reich zu werden. Ein Zufall brachte ihn auf den Gedanken, einen Geldbriefträger zu überfallen. Das Beutegeld war alsbald verprasst. So musste er erneut auf Raubzug gehen, und der unheilvolle Weg, gemeinsam mit seinem Bruder, begann. Die Taten zu leugnen hatte angesichts der sogar schriftlich niedergelegten Geständnisse in den Briefen an Weber keinen Sinn mehr.
Fünf Tage nach dem Verhandlungsauftakt wurde Karl Koppius zweimal zum Tode verurteilt. Hinzu kamen fünfzehn Jahre Zuchthaus und dauernder Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Bruder Fritz Koppius erhielt zwar nur sieben Jahre Zuchthaus, ansonsten aber dasselbe Strafmaß. Bei ihm änderte allerdings der sächsische König das Todesurteil in lebenslänglich.
Karl Koppius musste angesichts seiner umgehend erfolgenden Hinrichtung dem Verleger Weber das angepriesene Manuskript, »ein Werk von eminenter aktueller Bedeutung …«, schuldig bleiben. So grausig sein Ende, so beruhigend diese Pointe.
Henner Kotte
Totgelacht
»Wenn das Weib die Verbrecherinitative ergreift …«
»Unn nu saachn de Leude, dass de Hoffmann immer so – frschdehsde? – so – se mungkldn ähm und mungkldn – Unn dähr eene von die Herrens, dähr gahm ähm öffdrsch – dähr gahm de Woche zwee-dreimal gahm dähr – nuh saachn de Leude, er währ ä bissjn vermeejlich gewähsn – ä Haus haddr dir gehabbd – unn das Haus haddr frglobbd – unn an dähm Daache, wohr gassierd hadde und hadde de ganze Bennunze bei sich – da issr widdr nein bei de Hoffmann. Unn – wie nuh solche Waiwr sinn – die riechn das – die märgkn das gleich, wenn eenr Marrih hadd – unn nuh saachd de Hoffmann, dähr Härre hädde in dr guhdn Schduuwe bei ihr hädde dähr aufn Gahnabee gesässn – unn wie dähr Härre so da gesässn hadd – saachd de Hoffmann – da fälldm midd ehm Mal dr Schraubschdogk uffn Gobb. Unn de Hoffmann schdärrzd uffn zu unn hehbd dähn Schraubschdogk widdr uff – unn dähr rudschdr awwr widdr aus – unn da wahrer dood.«
Ein sprachliches Kabinettstückchen, eine kabarettreife Nummer, das sich da zwei in der Straßenbahn erzählen. »Die Hoffmannsche« ist in der Tat einer der fest verorteten Sketche der Leipziger »Retorte«, der angesagten Bühne von Hans Reimann. Aber es war »eine ernste, ja grausige Geschichte«, und sie beruhte auf der Wahrheit.
Am 7. März 1922 hatte man vermeldet: »Mordtat in Leipzig – Montag Nachmittag, den 2. März 1922, 6.30 Uhr hat eine etwa fünfzigjährige Frau vor dem Hauptbahnhof, preußische Seite, zwei Dienstmänner beauftragt, einen Reisekorb aus Weidengeflecht zum Zug 7.14 Uhr nach Halle zu bringen. Sie teilte ihnen mit, dass sie sich selbst noch eine Fahrkarte lösen wolle und die Dienstmänner dann am Zuge wieder treffen wolle. Als sie indes bei Abgang des Zuges nicht kam, nahm ein Dienstmann den Korb wieder aus dem Zug heraus und brachte ihn, da ihm die Sache verdächtig vorkam, zu der Kriminalhauptstelle im Hauptbahnhof. Hier öffnete man den Koffer und fand unter blutigem Papier einen schwarzen Herrenmantel mit Samtkragen. Darauf lag eine goldene Uhr mit Kette. Dann kam unter nochmaligem Papier die Leiche eines Mannes ohne Kopf zum Vorschein und zwar auf dem Bauche liegend.«
Die Ermittlungen im Fall der »Kofferleiche« vom Hauptbahnhof zeitigten alsbald Ergebnisse. »An Hand des Monogramms in der Wäsche, die E.C. gezeichnet war, und einer Zigarrenspitze, auf der der Name einer Gastwirtschaft aufgedruckt war, stellte es sich schließlich heraus, dass der Ermordete niemand anderes sein könne als der privatisierende Kürschnermeister Emil Conrad.« Und schnell war auch »die Spur des Verbrechers durch verschiedene Aussagen, Feststellungen und Erörterungen nach der Ewaldstraße 18, Volkmarsdorf, gelenkt worden. Dort wohnt die siebundvierzigjährige Witwe Berta Hoffmann, die den Ermordeten näher kannte und geschäftlich mit ihm zu tun hatte.« Ungewöhnlich hatte sie sich insofern verhalten, weil sie sich am vermuteten Tattag »einen vergnügten Abend im Café« machte und für ihre Kneipengäste eine Rechnung beglich, die sich auf mehr als 90 Mark belief.
Gleich nach ihrer Einlieferung in die Untersuchungshaft erkannten die beiden Dienstleute Nummer 40 und 38 »die Hoffmannsche« wieder. Die jedoch »leugnete, jemals mit den Dienstmännern gesprochen zu haben, aber einer der Dienstmänner hob hervor, die Frau an ihrem Augenfehler ganz bestimmt wiederzuerkennen«. Und dann meldete sich ein junger Mann, der bezeugte, den Reisekorb zum Bahnhof transportiert zu haben. Ansonsten wusste er von nichts. Aber »das Lügengewebe der Frau Hoffmann hatte durch diese Angaben einen großen Riss bekommen. Sie wurde dem jungen Mann gegenübergestellt, leugnete aber trotz alledem dreist weiter, mit der Mordtat irgendetwas zu tun zu haben. Mit einem Schwall von Worten suchte sie sich herauszureden und den sie vernehmenden Beamten zu überzeugen, dass hier möglicherweise ein andrer Korb in Frage käme. In die Enge getrieben und auf das Unglaubliche ihrer Aussagen hingewiesen, bequemte sich die Frau, die ganz mit Beharrlichkeit die größten Lügen aussprach und sich andauernd in Widersprüche verwickelte, zu einer längeren Darstellung, die jedoch mit äußerster Vorsicht aufzunehmen ist.
Nach ihrer Angabe hat sie mit dem ermordeten fünfundsechzigjährigen Emil Conrad einen Hauskauf abgeschlossen. Am Donnerstag- oder Freitagabend voriger Woche sei nun in ihrer Wohnung der Hauskauf perfekt geworden. Conrad sei mit einem ihr unbekannten Herrn erschienen, habe ihr eine Quittung über 33000 Mark ausgestellt und dann von ihr das Geld genommen. Die Herren hätten angeblich Lust gehabt, bei ihr den Abend zu bleiben, und sie sei deshalb aus der Wohnung gegangen, um für das Abendbrot einzukaufen. Als sie wiedergekommen, sei der Herr Conrad nicht mehr anwesend gewesen. Der Unbekannte sei allein gewesen und hätte gesagt, Herr Conrad käme bald wieder. Dann hätte der Unbekannte ihr mitgeteilt, dass er sich inzwischen ihren Reisekorb geborgt und etwas hineingepackt habe. Sie möge so freundlich sein, den Korb aus dem Hause zu bringen. Er habe ihr 5000 Mark für diese Besorgung gegeben, und sie habe den Korb zu ihren Bekannten nach Plagwitz gebracht. Als der unbekannte Mann ihr dann gesagt habe, sie solle den Korb nach Magdeburg bringen, habe sie den Korb mit dem jungen Mann nach dem Hauptbahnhofe geschafft.
Das Dienstmädchen gab an, dass sie zusammen mit Frau Hoffmann den Korb nach Plagwitz gefahren habe. Frau Hoffmann habe außerdem ein kleines Paket in der Hand gehabt, das nach unten spitz, nach oben viereckig verlaufen ist. Das Mädchen hat den Eindruck gehabt, dass das Paket mit Ziegelsteinen beschwert war. Es besteht nun die Wahrscheinlichkeit, dass Frau Hoffmann das Paket, in dem sich sicherlich der Kopf des Ermordeten befunden hat, an der Heiligen Brücke oder Sachsenbrücke in das Wasser geworfen hat.«
Die Stadt spekuliert wie Reimanns Protagonisten. »Der mysteriöse Mord, der an dem siebenundsechzig Jahre alten Kürschnermeister Emil Conrad begangen wurde, hat in der Bevölkerung große Erregung hervorgerufen. Neben allergrößter Anteilnahme mit den schwer getroffenen Verwandten des auf so grausame Weise aus dem Leben Geschiedenen erweckt die Art der Ausführung der Tat in der Einwohnerschaft tiefste Abscheu vor der immer noch leugnenden Witwe Bertha Hoffmann. Obwohl sich der Ring der Beweise immer enger schließt, bleibt diese Frau doch bei ihrer ständigen Rede: ›Ich bin es nicht gewesen!‹ Die gründliche Durchsuchung der Hoffmannschen Wohnung ergab mit unzweifelhafter Sicherheit, dass Herr Conrad in einem fensterlosen Raum hinter dem Korridor ermordet worden ist. Es fanden sich zahlreiche Blutspritzer in einer Ecke an der Tür und an der Wand. Es müssen sich größere Blutlachen auf dem Fußboden befunden haben. Diese sind nach Möglichkeit durch Aufwischen beseitigt worden. Es wurde auch unter dem Gussstein ein Küchenmesser gefunden, an dessen Griff noch deutlich Blut zu erkennen war.« Den Mord leugnet Bertha Hoffmann weiterhin, so wenig glaubwürdig ihre Einlassungen zum »Großen Unbekannten« andern auch erscheinen mögen.
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