Die Rekruten sprachen fast jede freie Minute über die Besatzung ihres Landes. Manchmal hörte Christian ihre Diskussionen mit an, ohne etwas dazu zu sagen. Einige von ihnen hatten sehr vernünftige Ansichten, wie er fand. Nach der Invasion Russlands hatte Frits Clausen, der Arzt aus Bovrup, noch mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nicht zuletzt in diesem Teil des Landes fand er überdurchschnittlich viele Anhänger. Christian erinnerte sich an einen der Wortwechsel der Rekruten, bei dem er dabei gewesen war. Hoffentlich hatten sie ihm nicht angesehen, was er dachte. Innerlich war er sehr stolz auf sie gewesen.
Natürlich hatten sie auch auf der Offiziersanwärterschule über die DNSAP gesprochen, und jetzt spukte Frits Clausen wieder in den Zeitungen herum. Einige veröffentlichten Bilder der ersten Soldaten, die im Dienste des Freikorps' Dänemark das Land verließen.
„Da wir gerade von Clausen sprechen: Jetzt ist die Gelegenheit, sich zu melden. In Kopenhagen hat die Waffen-SS eine Werbekampagne gestartet“, sagte Heino mit unschuldiger Miene und breitete die Arme aus. Christian mochte ihn. Zwar gehörte er nicht zu den besten Rekruten, aber er hatte Humor. „Für alle, die Lust haben, mit den Nazis in Russland zu kämpfen und den Bolschewiken mal so richtig die Gamaschen zu besohlen.“
Alle lachten.
„Frits Clausen steht hinter der Kampagne. Habt ihr die Plakate gesehen?“, hakte Heino nach. „Wer sich meldet, kämpft ab sofort für das Freikorps Dänemark.“
„Du bist ja bestens informiert“, sagte der Bornholmer und zog an seiner Zigarette.
„Mein Vetter hat sich gemeldet. Grundgütiger! Sie schicken ihn in ein Ausbildungslager nach Deutschland, und dann geht’s ab nach Russland und in den Krieg“, fuhr Heino fort und verdrehte die Augen.
„Zum Teufel, man weiß wirklich nicht, was gefährlicher ist, ein Haufen Kommunisten oder ein Haufen Nazis“, meinte Bengtsson und schüttelte den Kopf.
„Wie wir alle wissen, ist nichts so gefährlich wie ein Kommunist“, schaltete Christian sich mit deutlicher Ironie in der Stimme ein. „Die Treibjagd, die im Moment abläuft, ist nur ein weiterer Beweis für den Einfluss der Deutschen in Dänemark“, fügte er mit ernster Miene hinzu, bereute die Worte aber in dem Moment, in dem er sie ausgesprochen hatte, denn er verstieß damit gegen eine wichtige Grundregel.
Überrascht sahen die Rekruten ihn an. Dann sagte einer: „Deutschland hat Jugoslawien und Griechenland erobert, und jetzt greifen sie die Sowjetunion an. Sie berauschen sich an ihren Siegen, aber das wird sich ändern. Mit den Russen werden sie nicht fertig.“
„In Wirklichkeit regieren doch die Deutschen unser Land, wenn sie die Regierung zwingen können, die Kommunistische Partei zu verbieten und die Kommunisten zu verhaften. Sie sagen unserer Regierung ja sogar, wenn ihr es nicht macht, dann machen wir's eben selbst!“ Bei diesen Worten sah Heino zu seinem Ausbilder hinüber.
„Sie kennen Frits Clausen doch bestimmt, Herr Ausbilder Fries“, stellte der Bornholmer fest.
„Warum sollte ich?“
„Liegen Bovrup und Kollund nicht direkt nebeneinander?“
„Nein, und ich kenne ihn auch nicht.“ Er stand auf und verließ den Unterrichtsraum, fest entschlossen, die Grundregel nicht noch einmal zu übertreten. Man diskutierte mit seinen Rekruten nicht über Politik. Nichtsdestotrotz hätte er gerne noch mehr gesagt, besonders zu der Pressemitteilung, die das Außenministerium kürzlich herausgegeben hatte und aus der hervorging, dass 'Oberstleutnant Kryssing das Kommando des Freikorps' mit Billigung der königlich-dänischen Regierung? übernommen habe.
Christian bedankte sich bei dem Mann, der ihn auf seinem Pferdewagen mitgenommen hatte, und legte die letzten Kilometer bis zur Hühnerfarm zu Fuß zurück. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm jemals so kalt gewesen war. Sein ganzer Körper war steif gefroren, die Füße in den Stiefeln schienen zu Eisklumpen geworden zu sein. Er schlug den Kragen hoch und träumte von einer Pelzmütze anstelle der Strickmütze, die er trug und die der Wind vollkommen ignorierte. Die Böen wirbelten Schneeflocken durch die Luft, sodass er eine Hand an die Stirn legen musste, damit sie ihm nicht in die Augen wehten. Seine Pflegeeltern hätten ihn natürlich abgeholt, besonders bei diesem Wetter, doch wussten sie nicht, dass er einen Tag früher als geplant Weihnachtsurlaub bekommen hatte. Natürlich würden sie sich freuen.
Er war fest entschlossen, die vorweihnachtliche Stimmung nicht zu verderben, indem er Alma und Jes davon erzählte, was in Kopenhagen vor sich ging. Sie machten sich ohnehin schon genug Sorgen.
Er kämpfte sich vorwärts und schob die freie Hand in die Manteltasche. Zu seiner Überraschung bekam er ein Stück Papier zu fassen, einen Handzettel, den er vor Wochen eingesteckt hatte. Tatsächlich hatte er ihn einem Kameraden weitergeben wollen, hatte es aber schlichtweg vergessen. Damals, als er den Zettel bekommen hatte, war er sehr aufgebracht gewesen. Er war in einer Angelegenheit der Offiziersanwärterschule in der Hauptstadt unterwegs und auf ein paar unvorhersehbaren Umwegen am Schlossplatz vor Amalienborg gelandet, wo hunderte von Studenten gegen den Antikominternpakt demonstrierten, einer Vereinbarung zur Ausweitung der Kooperationspolitik.
In den folgenden Wochen kam es immer wieder zu Unruhen. In der Kaserne sprachen sie darüber, dass genau das die Dinge waren, die zu illegalen Aktionen führten. Christian konnte es den Saboteuren nicht einmal verdenken.
Jetzt bog er auf den Feldweg ein und erinnerte sich an die Zeit, als er hier jeden Tag mit dem Rad entlang gefahren war. Es war mehr ein Hindernisrennen gewesen, aber heute überzog eine Schneeschicht die vielen Löcher und Unebenheiten.
Er dachte an die Hühnerfarm und den Traum, den Alma und Jes sich im Laufe der ersten zehn Jahre seines Lebens vom Munde abgespart und dann verwirklicht hatten. Für Christian bedeutete es, dass der Weg zu Oma Botilla und zur Schule länger wurde. Er fand, seine Pflegeeltern hatten einen verfallenen Hof gekauft, aber während er heruntergekommene Gebäude sah, sahen Alma und Jes Möglichkeiten. Danach verband ihn nur noch ein unendlich langer und im Winter dunkler Feldweg mit dem Rest der Welt.
Durch die Hühnerfarm hatte Christian gelernt, was früh aufstehen hieß. Hatte sich an den enormen Lärm gewöhnt, der ihm entgegenschlug, sobald er das große Gebäude betrat, in dem das Federvieh zu tausenden gackerte und krähte. An den Geruch und die staubige, stickige Luft. Und natürlich an die Hühner, die pickten und sich gegenseitig Federn ausrupften.
Einen Augenblick lang stand er im Innenhof und betrachtete sein Zuhause. Das kleine Wohnhaus und die Hühnerfarm gegenüber. Er konnte den Lärm der Hühner beinahe hören, wenn er sie nur sah.
Jetzt sah Alma aus dem Küchenfenster und bemerkte ihn. Sie schlug die Hände vor den Mund und verschwand im nächsten Moment aus seinem Blickfeld, sicher auf dem Weg zur Tür so schnell sie konnte.
Seine Tante umarmte und küsste ihn auf beide Backen. Jes kam gerade aus dem Stall, seine Augen glänzten feucht, als er seinem Pflegesohn kräftig auf den Rücken klopfte. Sein charakteristischer Duft drang Christian sofort in die Nase.
„Na komm, Kedde, jetzt tauen wir dich erst mal auf. Was für ein Wetter! Gib mir deinen Mantel und setzt dich an den Ofen.“ Seine geliebte Tante hielt immer noch seine Hände. „Wenn du wüsstest, wie froh wir sind, dich zu sehen! Komm, lass mich dir ...“
Er spürte, wie der Schnee in seinen Haaren schmolz und das Wasser seinen Nacken hinunter und unter sein Hemd rann, als er ihr den Mantel reichte.
„Jes, setzt doch schon mal Wasser auf“, sagte Alma, während sie Christians Mantel nahm.
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