Aksel nickte sogar in Richtung des Fensters hinter ihnen, als wolle er sagen: ,Oder was meinen Sie dazu, Frau Jakobsen??, bevor er das Wort ergriff. „Wie Kedde ja neulich schon gesagt hat, könnten wir den Deutschen das Leben schwer machen … aus dem Untergrund heraus.“
„Das könnten wir, wenn wir uns nicht morgen voneinander verabschieden würden“, sagte Christian und bemühte sich, die Wehmut zu verbergen, die ihn bei dem Gedanken daran überkam. Schon bald würde er alleine in Kopenhagen sein und wieder von vorne anfangen müssen. Ob er Aksel und Petersen überhaupt wiedersehen würde? Er versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben. Momentan würde er lieber in Südjütland bleiben und den Kampf aufnehmen.
„Hast du deine Entscheidung überdacht, Kedde? Du verlässt dein geliebtes Südjütland, und das in diesen Zeiten? Du verlässt uns?“ Petersen sah ihn mit aufgesetzt anklagendem Gesichtsausdruck an.
„Das kannst du mir ja wohl nicht verdenken. Ich brauche eine Luftveränderung. Ich muss hier weg, weg von diesen unerträglichen Heimatdeutschen. Die ist man in Kopenhagen immerhin los.“ Demonstrativ hob er das Kinn.
„Du könntest bleiben und versuchen, die Dinge zu verändern – anstatt einfach wegzulaufen“, hielt Petersen dagegen.
„Morgen ist es Zeit, Abschied zu nehmen“, sagte Christian und hob abwehrend die Hände. „Du weißt genau, dass es zu spät ist, daran etwas zu ändern – belassen wir es für heute dabei.“
Den letzten Abend verbrachten sie in dem alten, gemütlichen Wirtshaus Christian IV, das im Volksmund nur ’Kedde der Vierte’ genannt wurde. Die Gaststube war bereits gut besucht, und viele der Gäste kannten sie. Sie bestellten eine Runde Bier und setzten sich an einen freien Tisch.
„Zum Teufel, Kedde, man könnte dich glatt vermissen“, sagte Aksel mit beinahe feierlicher Stimme, bevor er das Glas hob und sie anstießen.
„Prost, Kedde, und viel Glück!“, schaltete Petersen sich ein. „Hätten wir dich nicht gefragt, ob du dich an unserem kleinen Studierzimmer beteiligen willst, hättest du es niemals geschafft.“
Sie lachten.
Als sie das erste Glas geleert hatten, gab Christian die zweite Runde aus.
„Pass bloß auf, bevor du dich umsiehst, bist du einer von diesen hochnäsigen Kopenhagenern geworden“, meinte Aksel und prostete ihnen zu.
„Ich verspreche, dass ich immer Südjüte bleiben werde, auch wenn sie mich einen Bauerntrampel nennen“, sagte Christian, und wieder lachten sie.
„In Kopenhagen wimmelt es nur so von Deutschen“, stellte Petersen mit einem so markanten Seufzen fest, dass sie ein Lachen nicht zurückhalten konnten.
„Wollt ihr eine Geschichte über unsere dreckige Besatzungsmacht hören?“, fragte Aksel. „Ich verspreche euch, dass ihr sie noch nicht kennt, sie ist nämlich ganz frisch.“
„Lass hören, ausnahmsweise glauben wir dir mal“, sagte Christian und blinzelte Petersen zu.
„Tut mir leid, aber es ist keine besonders gute Geschichte, man kann sich eigentlich nur darüber aufregen.“ Aksel hob entschuldigend die Hände.
„Das fängt ja gut an“, sagte Christian, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken. „Wenn es wenigstens die Deutschen sind, über die man sich aufregen muss, können wir damit leben.“
„Mein Onkel ist Journalist in Aabenraa, und vor ein paar Tagen hielt der Chef des deutschen Pressedienstes – fragt mich nicht, wie er heißt ...“
„Tut ja nichts zur Sache“, unterbrach Petersen.
„Wie auch immer, jedenfalls hatten die Deutschen Journalisten aus ganz Südjütland nach Aabenraa einbestellt, um sie darüber zu informieren, wie sie sich nach der Besatzung Dänemarks zu verhalten haben. Die Journalisten sitzen also an einem langen Tisch, an dem einen Ende der Deutsche, der die 'Konferenz' leiten sollte, unter einem großen Bild von Hitler.“ Aksels Stimme schwoll mehr und mehr an, und als der Name des Führers fiel, schrie er so laut, dass einige der Gäste sich umdrehten und zu ihrem Tisch herübersahen.
Petersen schüttelte den Kopf, schien sich aber zu amüsieren. „Aksel, um Himmels willen, ein bisschen leiser. Es gibt reichlich Heimatdeutsche und andere Idioten in diesem Land, die mit den Deutschen sympathisieren. Willst du etwa rausgeschmissen werden?“
„Lass sie nur kommen“, Aksel breitete die Arme aus, „aber zurück zu dieser sogenannten Konferenz. Was meint ihr dazu? Das ist doch wohl der Gipfel der Arroganz. Was bilden die sich eigentlich ein?“
„Wie ist es dann weitergegangen?“, fragte Christian und trank einen Schluck Bier.
„Nun ja, er fängt damit an, dass die Deutschen nicht die Absicht hätten, die Presse zu zensieren. Dann erwähnt er die 'unerfreulichen Zwischenfälle?, zu denen es trotz der Kooperationspolitik seit dem 9. April gekommen sei. Außerdem müsse er feststellen, dass mehrere Proklamationen nicht in den dänischen Zeitungen erschienen seien. Zum Schluss meinte er, die Besatzungsmacht erwarte, dass die Presse keinen passiven Widerstand leisten und keine negative Propaganda verbreiten werde.“ Bei den letzten Worten war Aksels Stimme wieder deutlich lauter geworden.
„Aber genau das nennt man Zensur“, unterstrich Petersen leise.
„Sie meinten, es würden viel zu viele negative Artikel über die Besatzungsmacht geschrieben. Stattdessen sollten die Zeitungen doch über die vielen positiven Dinge berichten ...“. Aksel schüttelte den Kopf.
„Und davon gibt es ja jede Menge“, fügte Christian mit unverhohlener Ironie hinzu.
„Er nannte sogar ein paar Beispiele, sprach von den Bauarbeiten, die in nächster Zeit beginnen sollen und von denen dänische Arbeitslose profitieren würden.“
„Ha, Bauarbeiten! Damit ihre Panzer schneller durch unser Land rollen können, oder was? Und im Übrigen finanziert von uns selbst!“ Petersen schlug mit der Faust auf den Tisch.
Sie stießen ein paar Flüche und Verwünschungen aus und spülten sie mit Hopfen herunter. Dann sagte Petersen: „Genug davon, es ist unser letzter gemeinsamer Abend, und da sollten wir ein bisschen Spaß haben. Obwohl das Bier mehr nach Leichenschmaus schmeckt, wenn man daran denkt, dass Kedde unserer schönen Heimat den Rücken kehrt. Es ist eine Schande, dass du uns verlässt. Und dann müssen wir obendrein noch zusehen, wie wir die Besatzungsmacht wieder loswerden.“
Sie stießen wieder an, und Aksel sagte:
„Zur Hölle mit den verdammten Heimatdeutschen!“
„Ihr kommt auch gut ohne mich zurecht, und die Besatzungsmacht wird wohl so oder so noch eine Weile im Land bleiben“, meinte Christian.
Er dachte daran, was Freundschaft eigentlich bedeutete und was sie zusammen hätten ausrichten können. An die Bewerbung, die er vor ein paar Monaten abgeschickt hatte und die inzwischen angenommen worden war. Er würde seine Ausbildung auf Frederiksberg Slot und Kronborg fortsetzen, doch hätte ihn jemand jetzt danach gefragt, wäre er froh gewesen, er hätte sie niemals abgeschickt. Er wollte Sønderborg nicht verlassen, wollte nicht von vorne anfangen, wollte nicht alleine sein.
Er war erst einen Moment lang in seine Gedanken versunken, als plötzlich zwei junge Mädchen an ihrem Tisch standen. Wie eine Fata Morgana. Sie passten nicht hierher, gehörten nicht in dieses ohrenbetäubend laute Wirtshaus voller Zigaretten rauchender Männer.
„Na, wen haben wir denn da? Wenn das mal nicht Gurli und Lis sind“, trompetete Aksel und lächelte über das ganze Gesicht. „Setzt euch, Mädchen. Was wollt ihr trinken?“
Christian nahm an, dass Aksel sie eingeladen hatte, zu kommen. Vielleicht sollte es eine Überraschung sein, aber es dauerte nicht lange, und Christian wünschte, sie wären nicht gekommen. Er hätte sich lieber noch länger mit seinen Kameraden unterhalten, ein paar Geschichten aus ihrer gemeinsamen Ausbildung erzählt, aber jetzt änderte sich die Stimmung, wurde anzüglich. Die Mädchen kicherten albern, und zweideutige Bemerkungen flogen hin und her.
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