Das hatte dieser Schuft natürlich gewusst! Und hätte der Russe noch irgendein grausameres Schicksal für ihn ausdenken können, er hätte es ihm bestimmt; das war gewiss. Konnte es überhaupt etwas Furchtbareres geben als für ein ganzes Leben auf diese unbewohnte Insel verbannt zu sein?
Rokoff musste zweifellos von hier aus direkt auf den Kontinent zugesteuert sein. Dort würde er kurzerhand und ohne Schwierigkeiten den kleinen Jack wilden Pflegeeltern ausgeliefert haben …, so lautete ja die Drohung auf jenem geheimnisvollen Zettel!
Tarzan schauderte bei dem Gedanken an die Leiden, die dem Kleinen unter den grausamen Wilden beschieden sein mussten, wenn er es auch nicht für ausgeschlossen hielt, dass Jack nicht gerade den größten Rohlingen in die Hände gefallen wäre. Oft waren ihm ja auch Wilde zu Gesicht gekommen, die durchaus menschlich handelten. Aber im ganzen blieb ihr Leben doch eben nur eine Reihe von Raubzügen, Gefahren und Quälereien.
Ein Kannibale, ein wilder Menschenfresser sein kleiner Jack! Furchtbarer Gedanke!
Mit zugefeilten Zähnen, die Nase durchbohrt und das zarte Gesicht grässlich tätowiert!
Tarzan seufzte tief. Könnte er jetzt diesen teuflischen Russen mit seinen nervigen Fingern erwürgen!
Und Jane!
Zweifel, Furcht und Ungewissheit mussten sie foltern, sie würde sich vor Qualen winden. Unendlich schlimmer ihre Lage im Vergleich zu der seinen! Er wusste eines seiner Lieben wenigstens daheim sicher geborgen, und sie? Keine Ahnung konnte sie haben über das Wo und Wie von Mann und Kind … Für Tarzan war es immerhin gut, dass er die volle Wahrheit nicht einmal ahnte. Tausendfache Qualen wären ihm nicht erspart geblieben. –
Langsam streifte er in Gedanken versunken durch das Dickicht. Plötzlich vernahm er heftiges Scharren, doch konnte er sich nicht erklären, wovon dieses Geräusch herrühre.
Vorsichtig folgte er dem Lärm und bald stieß er auf einen starken Leoparden, der sich unter einem gestürzten Baum festgeklemmt hatte.
Das Raubtier empfing Tarzan mit grimmigem Geknurr und suchte sich mit allen Kräften aus seiner üblen Lage zu befreien. Kaum eine Handbreit kam es jedoch von der Stelle: Ein starker Ast lag quer über seinem Rücken, und die Füße waren im wilden Gewirr der Zweige gefesselt.
Der Affenmensch näherte sich der hilflosen Katze und griff zum Bogen. Er wollte sie töten, ehe sie dem langsamen Hungertode verfiel. Doch eine plötzliche Laune ließ ihn innehalten, als die Sehne schon zum tödlichen Schwung ausholte.
Warum dem armen Geschöpf Leben und Freiheit rauben, wenn er ihm beides so leicht wiederschenken konnte? Er sah ja, dass der Leopard sich mit allen vieren um seine Freiheit mühte: Sie waren also heil geblieben, und auch das Rückgrat schien unverletzt. Da war nichts gebrochen.
Er tat den Pfeil in den Köcher zurück, hing den Bogen wieder über die Schulter und trat noch näher an das eingeklemmte Tier heran. Mit seinen Lippen ahmte er das schmeichelnde Schnurren großer Katzen nach, mit dem sie einander gewöhnlich ihr Wohlbehagen bezeugen. Es schien ihm das der beste Weg, um sich mit Sheeta freundschaftlich zu verständigen.
Der Leopard ließ auch gleich sein Knurren und sah dem Affenmenschen fast fragend in die Augen.
Wenn Tarzan jetzt die wuchtige Last von Sheetas Rücken wälzen wollte, musste er unbedingt so nahe an das Tier herangehen, dass es ihn in seine langen, scharfen Krallen bekam. Dann wäre er ihm nach vollbrachtem Werk auf Gnade und Ungnade ausgeliefert … Doch Tarzan kannte keine Furcht. Hatte er sich einmal entschieden, schritt er immer rasch und rücksichtslos zur Tat.
Ohne zu zögern, sprang er mitten in das wirre Geäst dicht neben den Leoparden. Immer noch klang das begütigende Schnurren von seinen Lippen. Die Katze wandte den Kopf und starrte ihn fragend an. Ihre langen Pranken waren weit geöffnet, wie es ihm schien, mehr in Erwartung als zum Angriff bereit.
Tarzan schob seine rechte Schulter unter den Stamm, eines seiner nackten Beine dicht gegen das seidige Fell der Katze gepresst.
Langsam streckten sich seine gewaltigen Muskeln, und immer mehr hoben sich Baumstamm und wirres Gezweig. Sowie der Leopard nicht mehr den vollen Druck der Last verspürte, kroch er schleunigst darunter hervor. Tarzan ließ den Stamm zur Erde zurückfallen, und die beiden wilden Tiere standen sich Auge in Auge gegenüber.
Ein grimmiges Lächeln lag auf den Lippen des Affenmenschen, denn er wusste, dass er nun sein Leben ganz in die Hand jenes furchtbaren Dschungeltieres gegeben hatte. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sich die Katze im gleichen Augenblick, in dem sie ihre Freiheit wiederfühlte, über ihn gestürzt hätte.
Doch sie tat es nicht; sie stand in einiger Entfernung und schien zu warten, bis der Affenmensch wieder aus dem wilden Durcheinander der Zweige herauskam. Jetzt war Tarzan draußen, nur drei Schritte vom Leoparden. Sollte er in die Bäume hinter sich bis in die höchsten Kronen hinaufklimmen, weil Sheeta ihm dahin nicht folgen konnte?
Irgendeine Eingebung – fast war es Tollkühnheit zu nennen – bestimmte ihn, sich dem Tiere freundlich zu nähern und zu sehen, ob in ihm so etwas wie Dankbarkeit stecke. Dann konnten sie sich ja miteinander vertragen.
Er ging näher: Die große Katze wich seitlich aus, und der Affenmensch folgte ihrer Fährte, nur einen Fußbreit hinter ihr. Als er dann durch den Wald davonschritt, kam der Leopard ihm nach, wie ein Hund sich zu seinem Herrn hält.
Tarzan konnte sich erst lange nicht darüber klar werden, ob das Tier ihm aus einer gewissen dankbaren Anhänglichkeit folgte oder um sich doch noch auf ihn zu stürzen, sobald der Hunger sich meldete.
Schließlich aber wurde er von der Richtigkeit seiner ersten Vermutung überzeugt.
Am Nachmittag schwang Tarzan sich hinauf in das Geäst der Bäume: Er hatte einen Hirsch bemerkt, und schon sauste seine Schlinge um des Tieres Nacken. Dann rief er Sheeta mit demselben schnurrenden Laut, mit dem er heute den Argwohn dieses wilden Tieres besänftigt hatte. Nur etwas schriller klang es, so etwa, wie er es gehört hatte, wenn Leoparden nach gemeinsamer Jagd sich in ihre Beute teilen.
Unmittelbar darauf krachte es im Unterholz, und der schlanke, geschmeidige Leib seines so eigenartigen Wandergefährten zwängte sich hindurch.
Wie er Bara erblickte, und ihm die Witterung frischen Blutes in die Nase stieg, gab er einen schrillen Laut von sich, und schon im nächsten Augenblick stürzten sich beide zu wildem Schmause über die zarte Fleischbeute.
Einige Tage streiften die sonderbaren Jagdgenossen zusammen durch den Dschungel. Einer teilte des anderen Beute, und so »speisten« sie oft und reichlich.
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