„Noch eine Ladung Post, Herr Bruhn!“
Peter Bruhn steht in seinem Zimmer im zweiten Stock des Hotels d’Angleterre und blickt mit ehrlichem Entsetzen auf den Haufen Briefe, den ihm der Zimmerkellner eben mit zuvorkommendem, diskretem Lächeln auf den Tisch legt. Großer Kaiser von China! Das ist nun schon der dritte Haufen heute! Nie hätte Peter Bruhn gedacht, daß es soviel heiratslustige junge Mädchen in Kopenhagen geben könne, und eine kleine Reue beginnt ihn zu erfassen, daß er den „nicht mehr ungewöhnlichen Weg“ einer Zeitungsannonce eingeschlagen hat, um sich eine Lebensgefährtin zu suchen. Aber was soll man tun, wenn man als Fremdling aus Übersee hierherkommt, den europäischen Verhältnissen entfremdet und gänzlich ohne Bekanntschaften und Verbindungen ist? Schöne junge Mädchen gibt’s zwar auch drüben in Rio genug, und Peter Bruhn hat unter den Palmen am Meeresstrand da drüben schon in manch zärtlich funkelndes Glutauge geblickt, das wohl einen Mann glücklich machen könnte. Aber wenn er an eine Lebenskameradin dachte, so hat ihm immer etwas ganz anderes vorgeschwebt, etwas Helles, Frisches, von Nordseebrise und Heimatduft Umwehtes, und er hat sich geschworen, sich seine Frau aus dem alten Lande einmal zu holen, aus Norddeutschland oder Skandinavien, und als ihn die Geschäfte zu dieser Reise nach Kopenhagen zwangen, hat er den festen Entschluß gefaßt, nicht ohne die Erfüllung seines Traumes zurückzukehren.
Die Fenster stehen offen. Draußen, um die Reiterstatue auf dem Kongens Nytorv, duften die Rhododendren, von Nyhavn her weht die starke, teergewürzte Hafenluft, überfüllte Straßenbahnwagen mit sommerlich hell und bunt gekleideten fröhlichen Menschen klingeln vorüber. Irgendein Festtag mußte heute sein, denn von allen Dächern und Fenstern weht das gleißende Rot und das weiße Kreuz des Daneborg.
Hell scheint die Frühlingssonne. Es müßte schön sein, jetzt mit den anderen Fröhlichen hinauszufahren in die Buchenwälder von Skofsborg und Klampenborg oder in einem Segelboot auf dem blauen Oeresund zu liegen. Peter Bruhn seufzte ein wenig, und der Blick, den er den Briefen auf dem Tisch sendet, ist wenig freundlich. Aber — Peter Bruhn ist ein korrekter Mann, ein Pflichtmensch, der nicht ins Vergnügen zu steigen vermag, solange noch eine Arbeit auf ihn wartet. So setzt er sich also etwas mißmutig an den Schreibtisch und beginnt seine Post durchzusehen. Manchmal schüttelt er den Kopf, manchmal muß er hell auflachen bei der Lektüre. Ein unglaubliches Durcheinander von Angeboten und Zuschriften, die man schon sorgfältig studieren muß, um sich ein Bild von den einzelnen Schreiberinnen machen zu können. Da sind kindlich-naive Zuschriften von Mädels, die wahrscheinlich noch in irgendeinem Lyzeum die Schulbank drücken, andere Briefe, denen man es direkt ansieht, daß sie aus Ulk geschrieben sind. Da sind zynisch offene Angebote von Damen, denen es nur auf eine finanzkräftige Herrenbekanntschaft ankommt, sentimentale Briefe von „Hausmütterchen“ und „Sonnenscheinehen“. Da sind Angebote von Dienstmädchen, die wie Bewerbungsschreiben um irgendeine geschäftliche Stellung anmuten, junge Frauen und Witwen, die mit „Ersparnissen“ und „gemütlich eingerichteten Wohnungen“ locken, vielversprechende Angebote von zünftigen Ehevermittlungsbüros und Briefe, denen man den Ernst anmerkt, der dahintersteckt, die unerfüllte Sehnsucht nach einem glücklichen kleinen Heim.
Mit den Bedingungen, die im Inserat gestellt waren, nehmen es die meisten Schreiberinnen nicht so genau. „Ich bin zwar dunkelblond, aber ...“ — „Ich bin allerdings kein Backfisch mehr, sondern eine gereifte Frau, aber ...“
Peter Bruhn legt einen Brief nach dem anderen kopfschüttelnd zur Seite. Auch die Fotos, die den meisten beiliegen. Ein halbes Dutzend ungefähr sind darunter, die ihm wohl gefallen könnten. Junge, gute Mädchengesichter. Auch die dazugehörigen Briefe sind recht ansprechend. Aber je länger Peter Bruhn vergleicht und überlegt, um so stärker kommt ihm zum Bewußtsein, daß es unmöglich ist, auf diese Weise eine Entscheidung zu treffen. Man müßte sie dann alle persönlich sehen und kennenlernen, und das geht doch nicht gut. Nein, der Gedanke mit der Zeitungsannonce war verkehrt.
Gewissenhaft beginnt Peter Bruhn die mühselige Arbeit, sämtliche Fotos wieder in Briefumschläge zu packen und eine kurze, aber höflich gehaltene Absage dazuzuschreiben. Die Uhr zeigt bereits fünf Uhr nachmittags, als er mit der Arbeit fertig ist.
*
In derselben Stunde schließt der Kontorist Olaf West, in Firma Skovbäk & Co., sein Schreibpult und wäscht sich draußen im Waschraum genießerisch langsam die Hände, mit dem guten Gewissen eines Mannes, der sein Tagewerk vollbracht hat und dem ein wohlverdienter gemütlicher Feierabend winkt.
„’n Abend, West!“
„Kommen Sie heute abend ins Café National?“
Olaf West erwidert freundlich die Grüße der Kollegen, die mit ihm über die Treppe des Handelshauses hinunterströmen. Eben, als er auf die Straße treten will, geht Fräulein Sörensen an ihm vorbei, das Fräulein von der Telefonzentrale der Firma. Olaf West beschleunigt ein wenig seine Schritte und holt sie ein.
„Fahren Sie auch mit der Linie 6, Fräulein Sörensen?“
Die schlanke Braunhaarige mit den frauenhaften Bewegungen schaut gleichgültig auf. „Nein, ich fahre nach Charlottenlund hinaus heute. Will mal ein bißchen frische Luft schnappen.“
„Das ist nett.“ Olaf West paßt seinen Schritt dem Mädchen an und hält sich an ihrer Seite. „Frische Luft kann ich auch gebrauchen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die gleiche Bahn benutze wie Sie, Fräulein Sörensen?“
„Warum sollte ich?“
Sie stehen an der Haltestelle und warten. Sprechen vom Geschäft, von den Kollegen, von all den hundert kleinen Nichtigkeiten des Alltags. Niemand kann etwas Besonderes dabei finden. Zwei Menschen aus dem gleichen Geschäft, die sich auf dem Nachhausewege gleichmütig unterhalten. Sonst nichts. Es fällt auch keinem der Kollegen, die vorübergehen und die beiden sehen, ein, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Man weiß, daß zwischen Olaf West und Fräulein Sörensen absolut kein näheres Freundschaftsverhältnis besteht. Sie wechseln höchstens hier und da ein paar kollegial-freundschaftliche Worte im Betrieb, in der Frühstückspause oder beim Nachhausegehen. Überdies gilt die Sörensen für eine kalte, hochmütige Natur, die selbst einem harmlosen Flirt im Büro eisig aus dem Wege geht.
Auch während der langen Fahrt sprechen Olaf West und Elna Sörensen nur Alltägliches miteinander. Nicht einmal der Kriminalist Dr. Holk würde etwas Verdächtiges darin finden, daß der Kontorist Olaf West sich mit seiner Kollegin Sörensen unterhält, die zufällig wie er selbst nach Geschäftsschluß vor die Stadt hinausfährt, um sich ein bißchen von der frischen Abendluft den Staub aus den Lungen wehen zu lassen.
Auch daß die beiden an der Endstation den Wagen verlassen und gemeinsam die Richtung nach der Eremitage einschlagen, ist nicht auffallend. Warum sollen sie nicht, da sie nun einmal zusammen herausgefahren sind, den Spaziergang gemeinsam fortsetzen? Aber Dr. Holk würde viel darum gegeben haben, wenn er die Unterredung hätte belauschen können, die Olaf West und Elna Sörensen miteinander führen, als sie erst draußen auf der freien Wiese der Eremitage sind, in einer Einsamkeit, wo es keine Gebüsche und Bäume gibt, hinter denen irgendein Unbefugter ihr Gespräch belauschen kann.
Der gleichgültig-müde Gesichtsausdruck Elna Sörensens ist plötzlich verschwunden. Die Qual eines zerrissenen Menschenherzens steht auf einmal groß und verzweifelt darin.
„Wann soll das nun enden, Olaf?“ stößt sie jäh hervor, gleichsam als würfe sie eine lästige, schmerzende Maske von sich. „Ich kann das nicht mehr lange aushalten. So oder so, wir müssen zu einer Entscheidung kommen!“
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