Axel Rudolph - Der rote Hahn

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Die Wege von Ragna Hvid und Walter Münch kreuzten sich jähe an einem sonnigen Tag in Vordingborg. Sie ist auf dem Weg zurück von Seeland nach Jütland, nachdem Ihre Mutter in einem Irrenhaus gestorben ist, er hat sich mit Skipper Hinrichsen auf dessen Kutter verkracht. Der Zufall führt die beiden zusammen auf eine Reise durch die ländliche Idylle Dänemarks. Ragna ist dankbar für das dunkle Schweigen des jungen Mannes, der nun ziel- und arbeitslos durch die Gegend schweift. Doch schon bald türmen die Ereignisse sich auf. Sie beschafft ihm Arbeit in der Nähe ihres Heimatortes – der Alltag des Hofes wird schnell zu dem seinen, und Karen, die Tochter des Bauern Poul Nielsens, Verlobte des reichen Grossbauern Jensen-Möllegaards, lädt zum Erntetanz… Jedoch steht sie einer schweren Wahl gegenüber: Eine Vernunftshochzeit kann den Hof weiterführen, mit Walter durchzubrennen, wäre ihrem Herzen zu folgen. Poul Nielsen will von der Liebe der beiden nichts hören und beharrt auf die Verlobung mit Jensen-Möllegaard. Noch in der Erntefestnacht, in der er Walter, als dieser um Karens Hand anhält, vor die Tür setzt, hört er über sich die Dielen knarren. Karen geht über ihm hin und her, packt ihren Koffer und schweren Schrittes verlässt sie den väterlichen Hof, um ihrem Herzen, ihrer Liebe zu folgen. Unten in Südjütland oder Nordschleswig, da gibt's Deutsche und Dänen, die freundlich und nachbarlich beisammen wohnen, da wäre keiner von ihnen in der Fremde, sinnt Walter – doch noch in derselben Nacht steht der Hof lichterloh in Flammen und Walter ist über alle Berge und das Leben auf dem Land wird in dieser Erntedanknacht aufgewühlt und nie mehr dasselbe.In feinster Detektivarbeit wird der Verlauf der Nacht nun aufgerollt. Zeugen befragt, Spuren verfolgt – Walter hat scheinbar nichts mit dem Brand zu tun. Ragna, die nie weit weg war, ist erleichtert – doch wer war es dann, der Versucht, Walter die Tat in die Schuhe zu schieben und dem dies beinahe glückt? Was ist das Motiv? Jemand will Walter an den Kragen und die Aussichten auf drei Jahre Zuchthaus rücken zunehmends näher. Ragna setzt alles daran, Walter zu helfen, doch kommt sie zu spät und ist ihre Hilfe wirklich so uneigennützig, wie es zuerst den Anschein hat, oder weiß sie mehr über den Hof, als sie dem Ermittler gegenüber eröffnet? Viel hängt an der Arbeit des Detektives – doch ob er es rechtzeitig schaffen wird, das Schicksal der Liebenden ins Lot zu bringen? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt…-

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Axel Rudolph

Der rote Hahn

Roman

Saga

Walter Münch kommt von Masnedsund her. Vor ihm liegen die roten Ziegeldächer von Vordingborg mit dem darüberwuchtenden Gemäuer des altehrwürdigen, runden und dicken Gänseturmes aus den Tagen König Waldemars, um ihn die blühenden Felder und satten Wiesen Seelands, hinter ihm der kleine Fischereihafen Masnedsund, in dem der Fischkutter „Baltasar“ liegt, mit dem rotnasigen, groben Skipper Hinrichsen an Bord.

Münch hat vor einer Stunde einen furchtbaren Krach mit diesem Skipper gehabt. Das heißt: Eigentlich ist immer Streit und Zank gewesen zwischen ihm und dem Alten, seitdem die „Baltasar“ hier in den dänischen Gewässern kreuzt. Heute aber war das Maß voll gewesen. Skipper Hinrichsen hat außer den Salzheringen, die er in Masnedsund gekauft hat, auch noch eine hübsche, runde Ladung Sprit an Bord nehmen wollen. Da hat Münch energisch aufgemuckt. „Ich fahr auf ’nem Fischkutter, Skipper, nicht auf ’nem Spritschmuggler! Verstanden?“ Und als der Alte saugrob geschimpft und erklärt hat, er verzichte darauf, einen so frechen und unbotmäßigen Maat an Bord zu haben, hat Walter Münch kurzerhand seinen kleinen Seesack über die Schulter geworfen und der „Baltasar“ den Rücken gedreht.

Rechts von der Straße blinkt durch grünen Buchenwald hindurch das blaue Wasser des Sundes. Halb versteckt hinter den Bäumen, lugen langgestreckte Gebäude, still zurückgezogen, von der Straße durch Wald und wohlgepflegte Gärten getrennt: die Landes-Irrenanstalt Oringe. Walter Münch sieht, wie eben ein Mann in dunkelblauen Tuchhosen und einer weißen Uniformjacke aus dem freundlichen Pförtnerhäuschen kommt und das grüne Gittertor öffnet. Ein Mädchen tritt auf die Straße hinaus.

Auch sie geht langsam in der Richtung auf Vordingborg zu, kaum zehn Schritt vor Walter Münch. In einer Minute kann er sie mit seinen weitausgreifenden Schritten überholen. Aber er tut es nicht. Er verlangsamt sogar sein Tempo. Das Gesicht des Mädchens kann er nicht sehen, aber ihre ganze Haltung drückt eine so tiefe Trauer und Niedergeschlagenheit aus, daß er ein Gefühl hat, als müsse er auf den Zehenspitzen an ihr vorbeischleichen. Die Hand, die eine kleine braune Reisetasche hält, hängt schlaff neben dem hellen Sommerkleid hernieder, der etwas vornübergebeugte Rücken zuckt in kurzen Zwischenräumen, die Füße machen kleine, unsichere Schritte.

Jetzt bleibt das Mädchen stehen, mitten auf der einsamen Allee; ein leises Schwanken geht durch ihren Körper. Walter Münch macht ein paar lange Schritte und rafft die Sprachkenntnisse zusammen, die er sich voriges Jahr erworben hat, als er auf der dänischen Brigg „Saltholm“ fuhr.

„Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein?“

Aus einem traurigen, blassen Gesicht starren ihn ein Paar große, dunkle Augen einen Augenblick verständnislos an.

„Geben Sie mal Ihr Köfferchen her, Fräulein!“ Walter Münch löst sanft die Reisetasche aus der schlaffen Hand des Mädchens und weist mit dem Kinn nach der Stadt hin. „Ich glaube, wir haben denselben Weg.“

Das Mädchen antwortet nicht. Willenlos schreitet sie neben dem Manne her, der sich bemüht, seine langen Schritte ihrem Gang anzupassen. In ihren Ohren klingen immer noch die Worte, die vor wenigen Minuten der weißhaarige, gütige Chefarzt da drüben gesprochen hat: „Wir hatten ja Ihre neue Anschrift nicht, Fräulein Hvid. Die Benachrichtigung ging an die Landwirtschaftliche Hochschule in Kopenhagen, wo Sie früher waren. Glauben Sie mir, es war so das Beste für Ihre Frau Mutter. Gesund wäre sie leider nie geworden, und sie hat furchtbar gelitten.“

‚Sie hat furchtbar gelitten.‘ Nichts anderes ist in Ragna Hvids Bewußtsein zurückgeblieben, nichts von all den tröstenden, guten Worten, die der Chefarzt nachher noch zu ihr gesagt hat, nichts als dieser eine Satz.

„Meine Mutter ist in der Irrenanstalt gestorben,“ sagt sie ganz plötzlich laut mit einer spröden, trockenen Stimme. Walter Münch wirft einen mitleidigen Seitenblick auf das Mädchen und schweigt. Was soll man dieser traurigen, leiddunklen Stimme antworten? Zu schönen Sprüchen reicht sein bißchen Dänisch nicht, und was bedeuten auch alle gutgemeinten Worte einem solchen Fall. Münch ist erst vierundzwanzig, aber auch er weiß schon, wie es tut, wenn man seine Mutter verliert.

Stumm gehen sie nebeneinander her, Ragna Hvid ist dem Mann dankbar für sein ernstes Schweigen. Da ist die Ruine der alten Waldemarsburg, da die Algade mit ihrem provinzialen Leben, da der kleine Bahnhof. Und plötzlich packt Ragna Hvid eine jähe Angst vor dem Alleinsein auf der langen Fahrt nach Jütland, vor den neugierigen Blicken der Mitreisenden, den unvermeidlichen Fragen, vor allem aber vor dem Alleinsein mit ihren Gedanken. Kann man das aushalten, nach dieser Stunde ruhig, als sei nichts besonderes geschehen, in einem Abteil zu sitzen, zwischen schwatzenden, fremden Menschen, auf dem Fährschiff die leuchtenden Lichter sehen, das fröhliche Gedränge um den langen, hübsch gedeckten und mit Sommerblumen geschmückten Kaffeetisch in der Kajüte? Muß man nicht laut aufschreien? Oder irgend etwas tun, etwas Gewaltsames, Schreckliches, um sich Luft zu schaffen? Die Notbremse ziehen, die Scheiben einschlagen, zertrümmern, zerschellen? Damit die anderen es auch merken, daß das Leid an Bord ist?

„Wenn ich Ihnen sonst noch behilflich sein kann, Fräulein?“ sagt Walter Münch fragend, indem er das Köfferchen zurückgibt. Ragna Hvid schaut auf, zum ersten Male voll und mit Bewußtsein ihrem Begleiter ins Gesicht.

„Sie sind nicht hier aus Vordingborg, nicht wahr?“

„Nicht weit von hier, Fräulein. Bloß die Ostsee liegt dazwischen.“

Ragna merkt erst jetzt, daß der Mann das Dänische mit einem typisch deutschen Akzent ausspricht. Sie nickt verstehend.

„Ja, man hört es, daß Sie aus Deutschland sind.“

„Das freut mich.“ Walter Münch fühlt das Bedürfnis, das junge Mädchen etwas abzulenken von seinen schweren Gedanken. „Ich heiße Walter Münch. Bin eben erst da hinten in Masnedsund abgemustert. Konnte mich mit dem Skipper nicht vertragen. Na, und jetzt will ich mal so’n bißchen durch Dänemark tippeln und zusehen, wo ich Arbeit kriegen kann.“

„Auf einem Schiff?“

„ Muß nicht unbedingt sein. Hab sogar ziemlich die Nase voll von der christlichen Seefahrt. Ich bin nun mal kein Seemann, Fräulein. Hab nur so zugegriffen vor ein paar Jahren, weil ich nicht arbeitslos in Kiel herumliegen wollte. Eigentlich bin ich gelernter Maschinenschlosser. Und meine Eltern waren Bauern. Am liebsten möchte ich wieder aufs Land.“

Das Läutewerk neben dem Bahnhof schlägt an. Menschen drängen durch die Tür in die kleine Vorhalle. In fünf Minuten muß der Zug da sein und hält nur kurz hier in Vordingborg. Ragna Hvids Gesicht zuckt nervös. Während sie ihrem Begleiter die müde Hand zum Dank hinstreckt, fährt ihr der Gedanke durch den Kopf, daß es gut sein müßte, diesen Mann auf der langen Reise neben sich zu wissen, diesen Mann, der zu schweigen versteht, weder neugierige Fragen stellt, noch billige Trostworte gibt. Man wäre nicht allein und brauchte doch nicht zu reden, wenn man nicht will. Impulsiv sieht sie zu Walter Münch auf.

„Wenn Sie wirklich auf dem Lande arbeiten wollen, dann sollten Sie zu uns hinüberkommen nach Jütland. Vielleicht könnte ich Ihnen behilflich sein.“

Münch ist ein Mann, der gewohnt ist, rasche Entschlüsse zu fassen. Er denkt nicht lange nach. Einen bestimmten Plan für die nächst Zukunft hat er sowieso nicht. Es ist gleichgültig, ob er hier auf Seeland nach Arbeit sucht oder erst mal nach Jütland fährt und sich dort umsieht. Und das traurige Mädchen da gefällt ihm.

„Wenn Sie meinen, daß in Jütland was zu machen ist, Fräulein — ich kann’s ja versuchen. Nur ...“

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